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- Warschauer Aufstand
Wir sollten ihnen unseren Respekt zollen
Am 1. August sind alle Polen vereint – im Gedenken an den Warschauer Aufstand vor 80 Jahren
1. August 1944, 17 Uhr, Warschau. Polnischen Kämpfer*innen gelingt es, Stützpunkte der deutschen Besatzer zu stürmen und ihre eigene Flagge wieder zu hissen. Sowjetische Panzer nähern sich der Hauptstadt, doch die polnische Exilregierung hatte beschlossen, dass man sich nicht befreien lassen wolle. Die Stadt sollte sich selbst befreien und ein Zeichen der Stärke und Unabhängigkeit des polnischen Staates setzen. Punkt um 17 Uhr – später als W-Stunde in das kollektive Gedächtnis eingegangen – geht es los. SS-Chef Heinrich Himmler ordnet am selben Tag an, mit aller Härte zurückzuschlagen.
Heute erinnert die Stadt im Bezirk Wola in einem Museum an die 63 Tage des Aufstands. Dieser sowie der Stadtteil Ochota gelten als jene Bezirke, in denen die SS besonders brutal vorging. Bereits in den ersten fünf Tagen des Aufstands wurden dort bis zu 50 000 Zivilist*innen getötet. Auf dem Gebäude des Museums prangt das ehemalige Geheimzeichen der Heimatarmee PW. Die Abkürzung steht für Polska Walcząca, deutsch: Kämpfendes Polen. Sie ist heute auf T-Shirts oder als Aufkleber an Straßenlaternen und sogar Autos der Straßenreinigung wiederzufinden. Das Interesse an der Ausstellung zum Warschauer Aufstand ist groß. In der Warteschlange vor dem Eingang informiert eine Frau per Handy Bekannte: »Hier ist so eine monströse Schlange, das kannst du dir gar nicht vorstellen.«
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Małgorzata Czerwińska-Buczek wundert das überhaupt nicht. Sie hat selbst in dem Museum gearbeitet und dort viele Zeitzeug*innen des Aufstands kennengelernt, mit einigen habe sie sich angefreundet. Dem »nd« berichtet sie, dass die Erzählungen der Überlebenden sie so sehr berührten, dass sie es als »Verbrechen« empfunden hätte, sie nicht schriftlich festzuhalten. Das tat sie mit einem Buch. Woraufhin sich weitere Zeitzeug*innen bei ihr meldete. Czerwińska-Buczek widmete sich auch deren Geschichten und gab aus diesem Grund ihren Job im Museum auf.
Plakate der Erinnerung sind in der ganzen Stadt präsent, schmücken auch Busse. Das Layout ist ansprechend, könnte auch Werbung für ein Kulturfestival sein. Das Gedenken sei verpflichtend, ungeachtet dessen, wie erfolgreich oder eben nicht das Aufbegehren gewesen sein mag, äußert Małgorzata Czerwińska-Buczek. »Die Aufständischen wollten nichts Geringeres als die Freiheit – dem müssen wir Respekt zollen.« Am Jahrestag heulen zur sogenannten W-Stunde die Sirenen in ganz Warschau. Der gesamte Stadtverkehr kommt zum Erliegen und Menschen halten inne, um zu gedenken. »Es ist ein Datum, an dem es keine Streitereien untereinander geben sollte. An diesem Tag sollten wir uns alle wie Warschauer und Warschauerinnen fühlen.«
Nach der Niederlage des Aufstandes hatte Hitler befohlen, Warschau »restlos zu zerstören«. Dem wurde Folge geleistet, wie im Museum des Warschauer Aufstands in einer 3D-Animation aus Vogelperspektive zu sehen ist. Eine Steinwüste. Als die ersten deutschen Truppen Warschau im September 1939 eroberten, zählte die Stadt noch 1,3 Millionen Einwohner*innen. Nach dem Fall des Aufstands lebten nicht einmal mehr 1000 Menschen in den Ruinen. »Das ist die Stadt, die meine Mutter im Alter von sieben Jahren erlebt hat«, erklärt eine Museumswärterin den Besucher*innen. Und gegenüber »nd«: »Hier kommen Menschen her, die das erlebt haben oder deren Familiengeschichte damit verwoben ist.«
»Die Aufständischen wollten nichts Geringeres als die Freiheit – dem müssen wir Respekt zollen.«
Małgorzata Czerwińska-Buczek Museologin
Der Politikwissenschaftler und Geschichtsredakteur der Tageszeitung »Rzeczpospolita« Marek Kozubal erklärt den Gedenktag als ein »Element unserer nationalen Identität«. Er berichtet von einer vor Kurzem durchgeführten und noch nicht veröffentlichten repräsentativen Umfrage. Sie habe gezeigt, dass der Aufstand von 1944 in der Wahrnehmung der Polen als einer der wichtigsten Einschnitte in der nationalen Geschichte gilt. Damit gehöre er zu Ereignissen wie dem »Ende der sowjetischen Herrschaft« 1989 und dem Beitritt des Landes zu EU und Nato. Die Erinnerung an den Aufstand sei seiner Meinung nach lebendig, solange es Zeitzeug*innen und Angehörige gibt. Danach werde sie verblassen, vermutet der Journalist. Gerade deshalb leiste das Museum einen besonders wichtigen Beitrag. »Es hat durch die Geschichte des Aufstandes zu zeigen, wie nahe – leider auch heute – die Vorstellung von Ruinen, von Krieg ist. Wir sehen das in der Ukraine«, so der Redakteur.
Ein dumpfer Herzschlag ist fast durchgängig in der Ausstellung zu vernehmen, zeitweise kommt das Heulen von abgeworfenen Bomben hinzu. In den spärlich erleuchteten Räumen, schummrigem Licht ist es teils schwer, die Infotexte zu lesen. Über gepflasterte Böden oder durch den Nachbau eines Abwasserkanals werden Besucher*innen durch das Leben und Sterben in den Tagen des Aufstands geführt. »Man muss das alles durchlebt haben, um zu verstehen, dass Warschau nicht umhinkam zu kämpfen«, steht an einer Wand geschrieben, darunter Bescheide aus der Zeit der deutschen Besatzung. An anderer Stelle rufen Flugblätter zum Kampf auf: »Der bewaffnete Kampf für die Befreiung der Hauptstadt hat begonnen! Drei Tage des Kampfes gegen den Besatzer haben uns große taktische und moralische Erfolge gebracht ... Es lebe das unabhängig Polen!« In einem Film, der im August 1944 in einem Kino mitten im aufständischen Warschau gezeigt worden ist, sind Bilder von Verwundeten sowie von der Zerstörung der Stadt zu sehen. »Das einsame Warschau kämpft weiter«, heißt es hier.
Nicht als Historikerin spreche sie, sagt Małgorzata Czerwińska-Buczek. Sie verstehe sich als Stimme der Überlebenden, mit denen sie gesprochen habe. »Die fünf Jahre der Besatzung waren für diese Menschen die Hölle, aber sie haben mir gesagt, dass die Momente des Aufstandes die schönsten in ihrem Leben waren, weil zum ersten Mal die mögliche Befreiung spürbar war.« Das Einzige, was sich die Warschauer*innen im Jahr 1944 gewünscht hätten, sei Vergeltung gewesen. Der Tag, an dem der Aufstand begann, »war die Gelegenheit, sich für die Jahre in der Hölle zu rächen, durch die niemand jemals durchgehen sollte«. Małgorzata Czerwińska-Buczek ist zudem überzeugt, dass es auch spontan zum Aufstand gekommen wäre, mit oder ohne den Aufruf der Heimatarmee.
In das heutige Gedenken mischt sich teilweise Unbehagen darüber, dass der Kampf aussichtslos, eigentlich von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen sei. Kritiker*innen meinen, die gewaltige Opferzahl wäre vermeidbar gewesen. Über Telefonhörer kann man im Museum unterschiedliche Urteile hören. Der Historiker Jan Ciechanowski nennt den Aufstand ein »großes Unglück«; er habe »zu einem unnützen Vergießen polnischen Blutes« geführt. Małgorzata Czerwińska-Buczek ist der Ansicht, dass trotz unterschiedlicher Meinungen »an diesem Tag alle Polen zusammenstehen sollten. Es gibt nur noch eine Handvoll Überlebender und wir sollten uns um sie vereinen und ihnen gegenüber unsere Wertschätzung aussprechen.« Die Menschen hätten nicht nur für ein freies Polen gekämpft, sie hätten es nach dem Krieg auch wieder aufgebaut. Der polnische Journalist und Publizist Adam Krzemiński schrieb jüngst in einem Essay: »Letztendlich sollte man die Schuld nicht beim Opfer suchen, sondern beim Täter.«
Ich spreche im Museum eine junge Familie an, die sich anfangs offen zeigt, mir von ihren Eindrücken zu erzählen. Doch als ich mich vorstelle, heißt es plötzlich, dass man mit deutschen Medien nicht reden wolle. Sind die Wunden noch so tief? Oder sind inzwischen neue hinzugekommen?
Im angrenzenden Park Wolności (Park der Freiheit) ist eine große Bühne aufgestellt, ein Kinderchor probt seinen Auftritt zum 80. Jahrestag des Aufstandes. Die Jungen und Mädchen trällern: »W – wolność (Freiheit), W – Wspólnota (Gemeinschaft), W – Ważne (wichtig).« Von den glockenhellen Stimmen angelockte Neugierige machen Fotos von den jungen Sänger*innen. Soldaten flanieren über das Gelände und schießen Selfies vor dem Museum.
Eine Mutter, die mit ihrer Tochter aus Szczecin angereist ist, um sich die Ausstellung anzuschauen, bittet mich darum, sie mit dem Museum und dem darauf sichtbaren »PW« zu fotografieren. Sie erzählt, dass ihr Bruder am 1. August Geburtstag habe, am Tag des Aufstandsbeginns. Man feiere stets zusammen, es werde gegrillt. »Um 17 Uhr aber unterbrechen wir die Feier, dann halten wir einen Moment lang inne.« Das sei ihnen wichtig. Und diese Tradition möchte sie es auch an ihre Tochter weitergeben. Sie betont: »Es muss erinnert werden, damit sich die Geschichte nicht wiederholt.«
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