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Transgender im Boxen bei Olympia: Der herbeigerufene Skandal

Im Frauenboxen kämpfen angeblich zwei Männer mit, doch daran bestehen berechtigte Zweifel

Imane Khelif (l.) gewann ihren Auftaktkampf durch die frühe Aufgabe der Italienerin Angela Carini.
Imane Khelif (l.) gewann ihren Auftaktkampf durch die frühe Aufgabe der Italienerin Angela Carini.

Olympische Spiele sind auch immer die Zeit der Skandale. Oft ging es um Doping, manchmal um vertriebene Obdachlose, neuerdings um das Ausspionieren mit Drohnen. All das wurde auch schon aus Paris berichtet. Der neueste – und hier muss man hinzufügen: angebliche – Skandal macht derweil besonders in konservativen Medien die Runde. Da sollen doch zwei trans Frauen beim Boxen starten dürfen, obwohl sie noch vor einem Jahr bei einem Geschlechtstest durchgefallen seien und disqualifiziert wurden. Dabei wird nicht nur wie üblich beim Thema Transgender im Sport auf eine angebliche Ungerechtigkeit verwiesen. Da es ein Kampfsport ist, wird gleich Gefahr für Leib und Leben der Gegnerinnen herbeigerufen. So titelte zum Beispiel die Online-Seite boxen1.com: »Wenn Wokeness zur Gefahr wird: Transgender-Boxerinnen bei Olympia«.

Das Problem an dem Skandal: Es ist womöglich keiner. Es steht nicht mal fest, ob die beiden Sportlerinnen Imane Khelif (Algerien) und Lin Yu-ting aus Taiwan überhaupt trans Frauen sind. An dem Geschlechtstest bei der WM 2023 muss auch gezweifelt werden, und selbst die erhöhte Gesundheitsgefahr scheint in diesem Fall eher beschworen als real, auch wenn sie nach Khelifs Auftaktkampf am Donnerstag in Paris, bei der ihre italienische Gegnerin schon nach 46 Sekunden aufgeben musste, sicher erneut hervorgebracht werden dürfte. Höchste Zeit für etwas Aufklärung.

Falsche Begrifflichkeiten

Schon der Begriff Transgender scheint hier unangebracht zu sein. Auch der oben benannte Artikel der Box-Website meint: »Die beiden Transgender-Boxerinnen wurden als Männer geboren, fühlen sich aber als Frauen – und das ist auch ok so.« So viel Toleranz liest sich zwar löblich. Dass die beiden als Männer geboren wurden, bleibt jedoch völlig unbewiesen. Tatsächlich findet sich bislang kein Hinweis auf irgendeine Art von Geschlechts- oder Identitätswechsel.

Transgender wird jedoch als Bezeichnung für derlei Wechsel der Identitäten von Frau zu Mann oder andersherum genutzt, oft, aber nicht immer begleitet von operativer oder hormoneller Behandlung, um das Aussehen dem gefühlten Geschlecht anzupassen. Weder bei Khelif noch bei Lin ist ein solcher Identitätswechsel bekannt.

Lin Yu-ting
Lin Yu-ting

Warum also diese Bezeichnung? Hier kommt neben Unwissenheit wohl der ominöse Geschlechtstest aus dem Jahr 2023 ins Spiel. Dort sei je nach Quellenlage bei einer der Boxerinnen oder beiden bei einer DNA-Analyse das Chromosomenpaar XY nachgewiesen worden. Also Mann, also Betrug, also disqualifiziert. So einfach.

Ist es nur leider nicht. Seit den 50er Jahren wurden Sportlerinnen körperlichen Untersuchungen unterzogen, später Chromosomentests und schließlich hormonellen Kontrollen. Die Chromosomentests werden nicht mehr genutzt, weil das XY-Paar kein eindeutiger Beweis für Männlichkeit ist. Vielmehr gibt es in seltenen Fällen sogenannte XY-Frauen, die anatomisch die äußeren Geschlechtsorgane des weiblichen Geschlechts besitzen, obwohl ein Y-Chromosom vorhanden ist. Anatomisch und hormonell sind sie weiblich. Ob dies bei den Boxerinnen zutrifft, ist nicht geklärt. Die 28-jährige Lin hat sich öffentlich nicht dazu geäußert. Die drei Jahre jüngere Khelif sprach laut AFP von einer »Verschwörung gegen Algerien«, sodass im Falle eines Titelgewinns die Landesflagge nicht gehisst werde. Das klingt zwar ebenfalls befremdlich, doch eindeutig bleibt: Der DNA-Test ist nicht aussagekräftig.

Ein zwielichtiger Verband

Warum wurde der Test dann durchgeführt? Die WM in Delhi im März 2023 wurde von der International Boxing Association (IBA) veranstaltet und stand schon damals unter keinem guten Stern. Zu dieser Zeit schlossen die meisten Verbände im Zuge des russischen Angriffskrieges in der Ukraine noch alle Russen aus. Die IBA aber ließ sie zu – auf Wunsch ihres Präsidenten Umar Kremlew, ein ehemaliges Mitglied der nationalistischen Motorradrocker Nachtwölfe und enger Vertrauter von Russlands Staatspräsident Wladimir Putin. Die WM wurde daraufhin von vielen Nationen boykottiert, darunter auch Deutschland.

Damals führte die IBA auch die umstrittenen DNA-Tests wieder ein. Auch das, so ist zu vermuten, auf Wunsch von Kremlew. Denn in Russland wird seit Jahren eine transfeindliche Politik gefahren. Die Disqualifikation von Khelif und Lin hatte das Geschmäckle eines Exempels, das hier medienwirksam statuiert werden sollte. Wenige Monate später wurde in Kremlews Heimat ein Gesetz verabschiedet, dass Geschlechtsangleichungen verbietet. Der Geschlechtseintrag im Pass kann nicht mehr geändert werden. Transmenschen wurde untersagt, Kinder zu adoptieren. Bestehende Ehen wurden für ungültig erklärt. Die Maßnahmen waren so schwerwiegend, dass sich der deutsche Lesben- und Schwulenverband einer Petition anschloss, die von der Bundesregierung ein Aufnahmeprogramm für trans Personen aus Russland forderte.

Ob die beiden Boxerinnen nun trans Menschen sind, intergeschlechtlich oder etwas ganz anderes, kann das »nd« nicht verifizieren. Vor allem aber: Auch das Internationale Olympische Komitee (IOC) scheint dazu nicht in der Lage. Das IOC hat die IBA schon vor vielen Jahren wegen diverser Korruptions- und Betrugsfälle unter Kremlews Ägide suspendiert und richtet das Boxturnier selbst aus. Somit ist die Ringe-Organisation auch selbst für die Zulassungsrichtlinien verantwortlich.

Das IOC folgt nur seinen Regeln

Schon 2021 hatte das IOC den Fachverbänden per Richtlinie empfohlen, keine Grenzwertdiskussionen mehr zu führen und stattdessen immer im Einzelfall zu entscheiden, ob eine Sportlerin, ob nun trans oder intergeschlechtlich, einen Vorteil hat oder eine Gefahr für ihre Kontrahentinnen darstellt. Wenn nicht, sollte einem Start zugestimmt werden. An die Richtlinie hielten sich viele Verbände nicht, im Boxen aber hat das IOC komplett selbst das Sagen und lässt Khelif und Lin nach eigener Prüfung kämpfen: »Jede Starterin erfüllt die Teilnahmebedingungen. Sie sind laut ihrer Pässe Frauen. Sie nehmen seit vielen Jahren an Wettbewerben teil und sind nicht plötzlich aufgetaucht. Sie sind Frauen«, erläuterte IOC-Sprecher Mark Adams die Entscheidung.

In konservativen Foren aber werden Studien zitiert, nach denen Männer 162 Prozent härter schlagen als Frauen. Es sei doch viel zu gefährlich, wenn sich das IOC irre. Doch sind die Algerierin und die Taiwanesin wirklich so übermächtig? Ein Blick in ihre Bilanz bei großen Turnieren zeigt das nicht: Khelif hat nur neun ihrer 13 Kämpfe in der Klasse bis 66 Kilogramm gewonnen, davon beendete ein Ringrichter nur einen vorzeitig. Ihr größter Erfolg war WM-Silber 2022. Lin ist in der noch mal neun Kilo leichteren Gewichtsklasse schon besser: 24:2 Siege und zwei WM-Titel hat sie vorzuweisen. Vorzeitig gewann aber auch sie nur zweimal. Im Netz findet sich nicht ein Video eines Niederschlags.

Auch Angela Carini wankte am Donnerstag trotz einer starken Rechten von Khelif nicht. Vielmehr brach die Italienerin den Kampf ab, weil sie »einen starken Schmerz in der Nase« spürte. Es sei eine reife Entscheidung gewesen, die Gesundheit nicht aufs Spiel zu setzen. Danach weinte sie kniend auf dem Ringboden. Das habe jedoch nur mit dem Tod ihres Vaters zu tun gehabt. Der war in der Nacht vor ihrem ersten Kampf in Tokio 2021 verstorben, und Carini daraufhin nicht angetreten. Nach zwei Jahren Pause wagte sie nun das olympische Comeback, das zu schnell endete.

Auf ihre Kontrahentin angesprochen, sagte die Italienerin: »Es ist nicht an mir zu sagen, was richtig und was falsch ist. Ich wünsche ihr, dass sie es bis zum Turnierende schafft und glücklich sein kann. Ich urteile nicht über andere.« In Twitter-Kommentaren war dennoch zu lesen, dass hier ein Mann eine Frau verprügelt habe.

Nasenbrüche beim Boxen sind keine Seltenheit. Derlei Verletzungsgefahren sind vielmehr eingepreist. Eine Kämpferin wird mit dem Sieg belohnt und nicht wegen Körperverletzung verklagt, wenn sie ihre Gegnerin bewusstlos schlägt. Bei Männern wird sogar auf einen Kopfschutz verzichtet. Warum also diese selektive Aufregung, wie etwa von der australischen Boxerin Caitlin Parker, die von einer »unglaublichen Gefahr« sprach? Sie sei nicht mit der Starterlaubnis einverstanden, und »damit sollte sich mal ernsthaft jemand befassen«, forderte sie noch. Sie selbst hat diesen Rat offenbar noch nicht befolgt.

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