Uuuh-Huuh!

Hören mit Schmerzen: Täglich kommt der Todesstoß

Pst, nicht stören: in der Nachbarschaft wird gerade Elton John nachgesungen.
Pst, nicht stören: in der Nachbarschaft wird gerade Elton John nachgesungen.

Ich bin mir nicht sicher, ob in einer besseren Zukunft nicht menschliche Behausungen mit sehr viel massiveren Wänden ausgestattet sein sollten.

Mein Nachbar gibt täglich am Nachmittag ein Solo-Konzert in seiner Wohnung. Musikinstrumente sind nicht beteiligt. Ich weiß das, weil ich ihn höre. Ich kann ihn sehr gut hören. Überdurchschnittlich gut. Weil seine Stimme so leichtgängig durch sämtliche Decken und Wände dringt wie ein heißes Schlachtermesser durch ein Kilo Butter. Oder durch meine Eingeweide. Ich höre ihn, seit er beschlossen hat, dass er für die experimentellen Darbietungen, die er in seinem Apartment aufzuführen nicht müde wird, eine »Gesangsanlage für Zuhause« braucht. Das wäre an sich nicht weiter bemerkenswert. Was er da tut, ist nicht verboten.

Die gute Kolumne

Thomas Blum ist grundsätzlich nicht einverstanden mit der herrschenden sogenannten Realität. Vorerst wird er sie nicht ändern können, aber er kann sie zurechtweisen, sie ermahnen oder ihr, wenn es nötig wird, auch mal eins überziehen. Damit das Schlechte den Rückzug antritt. Wir sind mit seinem Kampf gegen die Realität solidarisch. Daher erscheint fortan montags an dieser Stelle »Die gute Kolumne«. Nur die beste Qualität für die besten Leser*innen! Die gesammelten Texte sind zu finden unter: dasnd.de/diegute

Wenngleich ich es gerne verbieten würde. Und zwar noch heute. Ich würde auch gern jene gewissenlosen Verbrecher bestrafen, die ihm das Mikrofon und den Lautsprecher verkauft haben. Ich würde sie sehr langsam bestrafen. Auf eine Weise, die das Schmerzempfinden stark intensiviert. Ich würde das mit großem Genuss und öffentlich tun. Zur Abschreckung anderer schurkischer Elektrofachhändler. Um sichergehen zu können, dass nie wieder jemand meinem Nachbarn auch nur ein Kabel verkauft.

Mit seinem Gesang tut er den Liedern, die er sich als Opfer gewählt hat, rohe, schwere Gewalt an. Nicht nur den Liedern. Auch mir. Mir ist dann, als treibe er mir einen scharfen und spitzen Gegenstand direkt in die Gehörgänge. Kurz darauf fühlt es sich an, als werde tief in meinem Inneren an einem überlebenswichtigen Organ eine schmerzhafte, nicht rückgängig zu machende, wenn auch glattrandige Gewebedurchtrennung verursacht, begleitet von einem hässlichen Reißgeräusch: RRRRATZZZSCH!

Bereits »ein Ton« eines Singenden, schrieb einst der Schriftsteller Johann Gottfried Seume (1763–1810) in einem seiner bekanntesten Gedichte, reiche aus, um unsere Seele »magisch aus ihrem Todesschlummer« zu wecken. Was er nicht erwähnte, war, dass »ein Ton« auch reicht, um ihr auf sehr unmagische Weise den Todesstoß zu versetzen. Jedenfalls wird, wenn mein Nachbar singt, meine Seele eindeutig eher abgestochen als auferweckt.

Was singt er? Er singt »Stand by Me« von Ben E. King und »Don’t Go Breaking My Heart« von Elton John und Kiki Dee (»Uuuh-huuh«). Diese zwei Titel habe ich wiedererkannt. Er singt die Lieder in einer Art höhnischer Mr.-Hyde-Version. So, als wolle er sie für ihre Existenz bestrafen. Er martert, schändet, vernichtet sie. Zerkeift und zerjodelt sie.

Doch Lieder sind rechtlos. Sie bluten nicht, wenn man sie misshandelt. Sie sterben nicht, wenn man sie foltert. Sie können sich nicht an den internationalen Gerichtshof für Menschenrechte wenden. Wenn die Wohnung meines Nachbarn sich nicht hier befände, in Berlin-Neukölln, sondern im Grenzgebiet Deutschlands, befände sich die Bundesrepublik längst im Krieg.

Ich glaube nicht, dass mein Nachbar ein Publikum hat. Zumindest kein freiwilliges. Er scheint das, was er da tut, für sich selbst zu tun. Oder besser gesagt: sich selbst anzutun. Er singt, als wolle er täglich aufs Neue mit seiner Stimme den Beweis antreten, dass – im Mittelalter – nicht die Anwendung von Garotte und Mundsperre das Menschenrecht verletzte, sondern erst deren Abschaffung.

Ich habe mir schalldämpfende Kopfhörer gekauft. Solche, die man sich aufsetzt, um keine Geräusche mehr aus der Umgebung hören zu müssen. Aber natürlich höre ich sie in meiner Nachbarschaft trotzdem. Wer aus nächster Nähe von einer großkalibrigen Vorderschaftrepetierflinte getroffen wird, dem hilft ein Heftpflaster nicht.

Sicher ist jedenfalls: Irgendwann heute im Lauf des Tages hört mein Nachbar mit seiner Performance wieder auf. Bevor er morgen irgendwann von Neuem damit beginnt, versteht sich.

Manchmal, in Momenten der Stille, stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn er immerzu weiterjaulen und -johlen würde. Wenn ich den ganzen verbleibenden Tag oder eine ganze Woche lang hier sitzen und darauf warten müsste, dass er mit dem, was er für Singen hält, aufhört. Kurz kam mir gar die Vorstellung in den Sinn, dass ich möglicherweise für den Rest meines Lebens hier sitzen müsste. Jahrzehnte würden verstreichen. Und mein Nachbar würde währenddessen ohne Unterlass weiterkeifen und, in einer Endlossschleife, seine vom UN-Menschenrechtsrat tapfer ignorierte Version von »Don’t Go Breaking My Heart« intonieren: »Uuuh-huuh!« (Scharfer, spitzer Gegenstand. Mit einem Ruck eindringend. RRRRATZZZSCH.)

Und ich würde unterdessen zum Greis werden. Und das Letzte, das ich hören würde, bevor mich endlich der Tod dahinrafft, wäre ein sirenenalarmartig anschwellendes und dann auf einen Schlag jede Spur von Leben in der Umgebung vernichtendes »Uuuh-huuh!«

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