- Wissen
- Kulturgeschichte
Die Ratte: Vom Pestüberträger zum Versuchstier
Ratten sind unbeliebte Kulturfolger und dem Menschen nicht ganz unähnlich
Nach dem Starkregen der vergangenen Wochen sind in Berlin und anderen Großstädten wieder ertrunkene Ratten zu sehen, die während der Überlastung der Abwasserkanäle an die Oberfläche gespült wurden. Als den menschlichen Siedlungen nachfolgende Tiere können sie auf diese Weise anzeigen, dass sich mit dem Klima auch wichtige Lebensbedingungen ändern.
In Europa gab es immer wieder Phasen, in denen sich Ratten ausbreiteten, so als römische Legionäre nach Norden zogen, dann während sich Handelsbeziehungen im Mittelalter ausdehnten, aber auch im vergangenen Jahrhundert, als Ratten in ländlichen Gebieten durch bauliche Veränderungen von Scheunen, Dachböden sowie eine veränderte Vorratshaltung in Silos erschwert Zugang zu Getreide und Nahrungsmitteln fanden. Hier folgten die Tiere den Menschen in die Stadt.
Sie gelten als Zwischenwirt für Pestbakterien und waren beispielsweise mit Flöhen befallen, welche den Pesterreger übertragen – wobei jüngste Forschungen zeigen, dass wahrscheinlich auch Kleiderläuse die Pest von Mensch zu Mensch übertrugen. Am abstoßendsten werden Kanalratten eingestuft, die kaum etwas anderes tun als viele mit ihnen verwandte Nagetiere. Die ursprüngliche Wanderratte, Rattus norvegicus, ist ein Allesfresser, sie ernährt sich von Pflanzen, Insekten und Fleisch. Ihren Bedarf an B-Vitaminen wie dem Vitamin B12 sowie an hochwertigen Proteinen kann sie mit pflanzlicher Nahrung allein nicht decken.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Mit Ekel besetzte Ernährungsweise
Daher gehören Ratten wie auch Kaninchen, Meerschweinchen und Chinchillas zu den Tierarten, welche (nicht immer nur ihre eigenen) Exkremente fressen. Auf diese Weise können sie sich mit bestimmten Vitaminen und Proteinen, die von Bakterien im Blinddarm gebildet werden, besser versorgen. Für Wanderratten ist es normal, dass ungefähr 30 Prozent ihrer Nahrung aus eigenem Blinddarmkot besteht, den sie jedoch unzerkaut herunterschlucken. Auch die Versorgung mit Vitamin K stellen die Tiere auf diese Weise sicher.
Im Grunde ist die Koprophagie, so der Fachbegriff, eine geniale Idee, auf die auch fehlernährte Hunde, die Menschen jedoch höchst selten, und wenn dann nur gezwungenermaßen oder im psychotischen Zustand kommen. Im Allgemeinen schauen Menschen mit Abscheu und Verachtung auf diese Verhaltensweise von Tieren herab.
Wohl auch deshalb kam es zu einem millionenfachen Missbrauch als Laborratten. Ihre schnelle Fortpflanzung innerhalb weniger Monate und im Vergleich zum Menschen kurze Lebensspanne von zwei bis drei Jahren machen Ratten für die Forschung zum idealen Versuchstier.
Dabei weisen Ratten durchaus eine physiologische Ähnlichkeit mit Primaten und Menschen auf. Rattenähnliche Tiere, welche im Zeitalter der Dinosaurier lebten, gelten als die gemeinsamen Vorfahren von Säugetieren. Bereits Werner Rothmaler und Ilselotte Groth wiesen in einem Kapitel von »Weltall, Erde, Mensch« auf die Fünfstrahligkeit von Hand und Fuß unserer rattenähnlichen, sehr frühen Vorfahren hin. Mit ihren Vorderpfoten können auch heutige Ratten Dinge greifen und festhalten. Sie sind intelligent, sozial, ihren (schwächeren, jüngeren) Artgenossen gegenüber hilfsbereit, rücksichtsvoll und empfindsam.
Tierversuche sind ersetzbar
Um für den Menschen wirksame Medikamente zu prüfen, reichen Tierversuche aber nicht aus. Hier sind stets klinische Studien mit freiwilligen Patienten erforderlich, kritisieren Ingrid E. Newkirk und Gene Stone, die Autoren des Buches »Tiere. Wer sie sind und was sie für unser Zusammenleben bedeuten«.
Immerhin wurde seit Januar 2019 der bis dahin in Europa vorgeschriebene Test auf anomale Toxizität bei der Arzneientwicklung abgeschafft. Bei diesem wurde beobachtet, ob Versuchstiere nach Verabreichung der Substanzen bestimmte Fehlbildungen entwickeln. Eine noch größere Zahl von Tierversuchen sei im 21. Jahrhundert überflüssig und unnötig, erläutert die Tierschützerin Ingrid E. Newkirk. Verschiedene In-vitro-Technologien mit kultivierten menschlichen Zellen oder Miniversionen menschlicher Organe können ebenfalls dazu dienen, die Sicherheit von Medikamenten und Chemikalien zu prüfen.
Ratten als Haustiere
Vielleicht kann hier der Trend, eine braun-weiße Farbratte als Haustier zu halten, ein Umdenken und einen Blickwechsel auf die klugen Tiere bewirken. Diese sogenannten Heimtierratten stammen oft von Laborratten ab. Sie sind zur engen Freundschaft mit dem Menschen fähig.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.