Hoffnung trotz offener Wunden

Zehn Jahre nach den islamistischen Massenmorden an Jesiden gedenken die Menschen in Şengal der Toten

  • Jakob Helfrich, Şengal
  • Lesedauer: 8 Min.
Kundgebung im Gedenken an die Opfer des Genozids am 3. August in der Stadt Şengal
Kundgebung im Gedenken an die Opfer des Genozids am 3. August in der Stadt Şengal

Es ist heiß dieser Tage in Şengal, auch nachts fällt die Temperatur nur selten unter 30 Grad. Abgeerntete Weizenfelder auf dem Weg in die vor allem von Jesiden besiedelte Region im Norden des Iraks, so weit das Auge reicht. Was unter dem Weizen hervorkommt, ist vor allem Staub.

Ähnlich sah die Region aus, als Einheiten des »Islamischen Staates« vor zehn Jahren in der Region einfielen, bis zu 10 000 Jesid*innen ermordeten und etwa 7000 Frauen und Mädchen verschleppten. Über die Felder, durch den Staub, flüchteten im August 2014 zehntausende Menschen insbesondere aus der Stadt Şengal zuerst in das gleichnamige Gebirge im Zentrum der Region. Später gelangten viele von ihnen durch einen humanitären Fluchtkorridor ins nahegelegene Syrien.

Die Verfolgung und Unterdrückung der jesidischen Gemeinschaft im Irak begann nicht mit dem 3. August 2014. Das wissen hier auch schon Jugendliche. So erzählt der heute 20-jährige Rojhat aus Til Êzer, dass es in seinem Dorf schon 2007 einen von Anhängern des islamistischen Netzwerks Al-Qaida verübten Autobombenanschlag gab. 2014 mussten auch er und seine Familie vor dem IS fliehen. Gleichaltrige Nachbarskinder sahen, wie ältere Familienmitglieder von den Islamisten getötet wurden.

Mehr als sechs Jahre verbrachte Rojhat in einem Flüchtlingscamp im Nordirak, bevor er zurückkam und sich seitdem bei Wiederaufbau und Selbstorganisation der Gesellschaft vor Ort engagiert. Unter den Tausenden Opfern des Genozids waren auch viele Kinder, die der IS zu Kindersoldaten machte oder versklavte. Von den knapp 7000 verschleppten Mädchen und jungen Frauen sind bis heute 2700 verschwunden.

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Der Schmerz der Bevölkerung, die nach der Befreiung von Şengal nach und nach zurückkehrte, ist rund um den Jahrestag allgegenwärtig. Die Erinnerungen an die Massaker, Verschleppungen und Vertreibungen vor zehn Jahren sind überall, wo man hinschaut, präsent.

Kaum eine Familie hat hier in Şengal hat keine Angehörigen verloren, entweder während des Genozids oder bei der Rückeroberung der Region. Auch die Überlebenden sind von den traumatischen Erlebnissen gezeichnet. Fast die gesamte jesidische Gemeinschaft in der Region musste ihre Heimat verlassen. Wie viele es genau waren, weiß heute niemand genau. Hunderttausende sind geflüchtet, nach Europa oder in Lager im Nordirak, bei weitem nicht alle sind zurückgekehrt.

Einige wenige sind nie ganz weg gewesen, mehrere Tausend Vertriebene blieben in den Bergen der Region. Diesen ersten natürlichen Zufluchtsort der Jesid*innen konnte der IS nie einnehmen. Spontan gebildete Widerstandseinheiten und wenige der kurdischen Arbeiterpartei PKK nahestehende Kämpfer*innen hielten den Gebirgszug mehrere Monate, bevor die Belagerung gebrochen werden konnte.

Bis zum Genozid 2014 stand Şengal unter der Kontrolle der kurdischen Autonomieregion im Nordirak. Genauer gesagt hatte die KDP (Demokratische Partei Kurdistans), geführt von der Familie Barzani mit ihren eigenen militärischen Einheiten, den Peschmerga, seit 2003 die Macht in der Region. Darüber, wie viele Peschmerga-Kämpfer zum Zeitpunkt des IS-Überfalls in der Region waren, gibt es verschiedene Angaben. Die KDP spricht heute von 2000. Ihre Kritiker, von denen es in Şengal viele gibt, von mehr als 10 000.

Fakt ist, dass die Peschmerga-Einheiten am Morgen des 3. August 2014 nach wenigen Stunden halbherziger Abwehrkämpfe gegen den IS abzogen und die Bevölkerung schutzlos zurückließen. Und das, nachdem sie es der lokalen Bevölkerung zuvor untersagt hatten, sich zu bewaffnen, und den Menschen versprochen hatten, sie gegen den IS zu verteidigen.

Bis heute fühlen sich viele Menschen in Şengal von der KDP verraten und geben ihr eine Mitverantwortung dafür, dass der IS seine Verbrechen ungehindert begehen konnte. In Gesprächen hört man immer wieder, die KDP habe die Region in einem Deal an den IS abgetreten.

Nachdem die Peschmerga geflohen und die Geflüchteten eingeschlossen waren, stießen damals Kämpfer*innen der Volksverteidigungseinheiten YPG und der Frauenverteidigungseinheiten YPJ der kurdischen Selbstverwaltung in Nordostsyrien bzw. Rojava, auf irakisches Gebiet vor und kämpften einen Fluchtkorridor bis in die Berge frei, durch den sich Zehntausende in Sicherheit bringen konnten.

Mit praktischer Hilfe der PKK bauten die Bewohner von Şengal in der Zeit nach dem Genozid eigene bewaffnete Gruppen auf: die Widerstandseinheiten (Yekineyen Berxwedana Şengale, YBŞ) und die Fraueneinheiten Şengals (Yekineyen Jinen Şengale, YJŞ).

Doch die kurdische Bewegung hat die Bewohner*innen Şengals nicht nur militärisch inspiriert. Auch beim Aufbau einer Selbstverwaltung orientierten sie sich eng an den Strukturen, die in Rojava seit 2012 bestehen.

Die Grundsteine etwa für Volks- und Frauenräte wurden schon gelegt, als sich noch tausende Menschen in den Bergen aufhielten. Der Volksrat von Zerdeşt, einem kleinen Dorf mitten in der Bergkette, besteht bis heute, und hat seinen Sitz noch immer in Containern. Mittlerweile wurde davor ein Garten angelegt. Das Provisorium der Selbstverwaltung entspricht damit dem Lebensstandard vieler Menschen, die in den Bergen geblieben sind.

Die Räte, die mittlerweile in etlichen Dörfern existieren, sind die zentralen lokalen Entscheidungsgremien. In verschiedenen Kommissionen wird so über die Angelegenheit der lokalen Gesellschaften entschieden, sei es die Infrastruktur, die äußere und innere Sicherheit oder auch die Bildung.

Auch die Sprach- und Bildungseinrichtung hat ihre Wurzeln in den Camps in den Bergen. Heute sitzt die Organisation, die sich zu einem Zusammenschluss der Lehrkräfte der Region entwickelt hat, in der sogenannten Roten Schule, wo 2014 Frauen und Mädchen festgehalten und nach verschiedenen Kategorien »sortiert« wurden, um sie innerhalb des IS-Kalifats zu verkaufen.

An diesem historisch schwer belasteten Ort finden heute unter anderem Seminare der verschiedenen Frauenorganisationen statt, die wesentlicher Bestandteil der Selbstverwaltung sind. Anliegen der Sprach- und Bildungseinrichtung ist es auch, Kindern Normalität zurückzugeben sowie Sprache und Kultur der jesidischen Gemeinschaft zu erhalten, die der IS zerstören wollte.

Doch die jesidische Selbstverwaltung kämpft lokal wie regional und international um Anerkennung. Sie kontrolliert zwar weite Teile der Region, ist mit militärischen, aber auch zivilen Strukturen präsent und genießt in der Bevölkerung und gerade auch bei den einflussreichen jesidischen Clans hohe Anerkennung.

Aber aufgrund seiner geografischen Lage greifen auch heute wieder viele Hände nach Şengal. Denn die Region im Nordosten Iraks liegt nahe den Grenzen zur Türkei im Norden und zu Syrien im Westen. Auch der Überfall des IS vor zehn Jahren hatte einen geostrategischen Hintergrund: Mit der Eroberung Şengals wollte die Islamistenmiliz eine von ihr beherrschte Route zwischen ihren Hochburgen Mossul im Nordirak und Raqqa in Syrien schaffen.

Seit der Befreiung Şengals vom IS 2017 versuchen sowohl die irakische Zentralregierung als auch die Regionalregierung in der kurdischen Autonomieregion die Kontrolle über den Distrikt wiederzuerlangen. Zeitgleich greift die Türkei die Region immer wieder aus der Luft an und behauptet, die Selbstverwaltung Şengals gehöre zur in der Türkei verbotenen und verfolgten PKK. Bei den Angriffen kommen immer wieder Zivilisten ums Leben. So starb Anfang Juli der Journalist Mirad Mirza.

2020 sollte ein Abkommen die Zukunft Şengals regeln. Die kurdische Regionalregierung und die irakische Zentralregierung einigten sich auf den Abzug der YBŞ und YJŞ sowie anderer in der Region aktiver Milizen.

Die jesidische Selbstverwaltung und die lokale Bevölkerung wurden in den Prozess wieder einmal nicht einbezogen. Rihan Hesen, die Ko-Vorsitzende der autonomen Administration von Şengal, wie sich die Selbstverwaltung selbst nennt, sagte gegenüber Besuchern der Region Anfang der Woche, eine Umsetzung des Abkommens würde die Rückkehr in die Strukturen vor dem Genozid bedeuten. Diese Strukturen hätten die Massenmorde aber erst ermöglicht. Ohne die Anerkennung der Selbstverwaltung könnten die Probleme der Region nicht gelöst werden.

Dass das Abkommen zwischen der kurdischen Autonomieregion und der irakischen Zentralregierung umgesetzt wird, ist allerdings unwahrscheinlich, denn die Bevölkerung wehrt sich vehement dagegen. Zudem haben Behörden des Irak vielerorts Vereinbarungen mit Kräften der Selbstverwaltung geschlossen. So werden auch Checkpoints gemeinsam betrieben.

Dass der Irak dennoch daran arbeitet, die Selbstverwaltung von Şengal zu schwächen zeigte sich am Dienstag: Der oberste Justizrat erklärte die jesidische Freiheits- und Demokratiepartei PADÊ für aufgelöst. Sicher ein »Geschenk« an die Türkie, aber auch ein Versuch, die Bemühungen um Anerkennung der Selbstverwaltung zu erschweren.

Dabei betrachten die allermeisten Bewohner*innen der Region den Aufbau eigener Strukturen als wichtigste Lehre aus dem Genozid. »Unsere Rache für den Genozid ist nicht, anderen das Gleiche anzutun, was uns angetan wurde, unsere Rache ist der Aufbau der Selbstverwaltung und Selbstverteidigung«, sagt etwa Yade Amşe, die in der Bewegung der freien jesidischen Frauen TAJÊ aktiv ist. Wie alle an der Selbstverwaltung beteiligten Frauen betont auch sie, dass der Genozid des IS auch ein systematischer Femizid war, also ein Angriff insbesondere auf Leben und Freiheit von Frauen.

Zehn Jahre nach dem Genozid sind die vom IS gerissenen Wunden weiter offen. Zudem destabilisieren türkische Drohnenangriffe und die Drohungen aus Bagdad und Erbil die Region. Und doch schauen viele hoffnungsvoll nach vorn. »Es wird nicht wieder passieren«, versichert Rojhat im Gespräch immer wieder. Was ihn daran glauben lässt, ist die Selbstverwaltung und damit der Fakt, dass die Geschicke Şengals heute trotz aller Schwierigkeiten in den Händen der Bevölkerung der Region liegen.

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