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Relikt einer vergangenen Hochschule

Bei »Das Argument« steht ein Generationenwechsel an. Vor welchen Schwierigkeiten steht die linke Theoriezeitschrift derzeit?

  • David Bebnowski
  • Lesedauer: 7 Min.
Vom Flugblatt zur Theorie-Instanz: Seit knapp 65 Jahren erscheint »Das Argument« zu den entscheidenden Themen der Linken. Wird das so weitergehen können?
Vom Flugblatt zur Theorie-Instanz: Seit knapp 65 Jahren erscheint »Das Argument« zu den entscheidenden Themen der Linken. Wird das so weitergehen können?

Es war eine Art Showdown. Im winterkalten Februar 1966 kam es im SDS-Arbeitskreis »Formierte Gesellschaft« zu einer Auseinandersetzung über die Aktionsformen der noch jungen Studierendenbewegung. Deren »antiautoritärer« Flügel hatte kurz zuvor, auf der ersten Vietnam-Demonstration in West-Berlin, rhetorische Grenzen überschritten und direkt zur Revolution der Unterdrückten aufgerufen. Der Herausgeber des »Arguments«, Wolfgang Fritz Haug, verurteilte diese Taktik der Zuspitzung, weil sie Individuen für den schnellen Effekt verheize. Er entschied sich für die Konfrontation.

Geleitet wurde der SDS-Arbeitskreis neben Rudi Dutschke von Götz Schmidt und Hans-Joachim Hameister, die Verbindungen zum Argument-Klub pflegten, der Stützorganisation der Zeitschrift. »Das Argument« drohte so ins Fahrwasser der Antiautoritären gezogen zu werden. Die Auseinandersetzung endete damit, dass der Klub zerbrach. Zu viele Mitglieder, auch die langjährigen »Argument«-Redakteure Bernhard Blanke und Reimut Reiche, sympathisierten mit dem frechen neuen Linksradikalismus, der tatsächlich bald den Ton im SDS bestimmte. Allerdings hielt Haug selbst an der Zeitschrift fest und sicherte sich die Verfügungsgewalt über sie. Der Kurs des »Arguments« wurde nicht aktionistisch, sondern dessen Losung lautete bald »Wissenschaft als Politik«. Wessen Erbe das Journal damit antreten wollte, verriet die neue Aufmachung: »Das Argument« wirkte wie eine Kopie der legendären »Zeitschrift für Sozialforschung«, jenes Zentralorgans der exilierten Kritischen Theorie der 1930er Jahre.

Trotz der großen Fußstapfen entwickelte sich »Das Argument« wie sein Vorbild zu einem Leitstern marxistischer Theoriedebatten in Deutschland. Lange Jahre traf die Zeitschrift mit diesem Programm den Zeitgeist und erreichte mit Erstauflagen von fast 25 000 Heften vor allem während der 70er Jahre breitere intellektuelle Massen. Vor Kurzem aber gab Wolfgang Fritz Haug in einem »nd«-Interview zu Protokoll, »›Das Argument‹ ist im Angebot«, und warb für Nachwuchs in der Herausgeberschaft. Diese übernimmt ab 2025 der Philosoph und Soziologe Lukas Meisner, der kürzlich der Redaktion beigetreten ist. Trotzdem dürfte es für die Zeitschrift in Zukunft schwer werden – und das hat damit zu tun, dass »Das Argument« in einem doppelten Sinne das Generationenprojekt war und blieb, als das es im Frühjahr 1966 erkennbar wurde.

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Marxistische Theorie-Freaks

Der geschilderte Konflikt über die Aktionsformen verrät viel über »Das Argument« und seine Stellung in der Binnendynamik der Neuen Linken. Sicher, alle Beteiligten waren »irgendwie« Teil der Neuen Linken, waren marxistische Theorie-Freaks, ihnen allen schwebten grundlegende, oft revolutionäre, Veränderungen an den westlichen Nachkriegsgesellschaften vor. Sie alle waren jung – aber viele Antiautoritäre waren jünger. Kurz vor seinem 30. Geburtstag war Wolfgang Fritz Haug rund vier bis fünf Jahre älter als seine Konkurrenten. Im Kosmos der akademischen Neuen Linken bedeuteten diese wenigen Jahre Altersunterschied die Dauer eines Studiums und damit eine ganze Generation. Hier standen sich nicht nur belesene und geschickt argumentierende Intellektuelle, »58er« und »68er«, wie es häufig heißt, sondern Studierende und akademische Assistenten mit jeweils spezifischen Interessenlagen gegenüber.

Im wörtlichen Sinne ist »Das Argument« ein Generationenprojekt seines Herausgeber*innenduos. Bis heute halten Wolfgang Fritz und Frigga Haug, 88 und 86 Jahre alt, die Zügel der Zeitschrift fest in ihren Händen. Beide prägten den Kurs der Zeitschrift mit Bestimmtheit und oft an der Grenze zum Autoritären. Viele der Vertrauten aus der langen Geschichte der Zeitschrift werden so auch im Einfordern von »Mumm«, den Haug im besagten Interview von der nächsten Generation einforderte, ein Kernproblem des Journals erkennen. Denn wer genügte schon den kritischen Anforderungen des engsten Kreises? Wer konnte den harschen Urteilen und der fordernden Arbeitsethik standhalten? Und vor allem: Wer möchte oder kann das heute noch?

Damit wären wir bei der zweiten Dimension des Generationenprojekts. »Das Argument« florierte jahrzehntelang als genau das Journal, zu dem es sich 1966 entwickelt hatte: als Organ des kritischen akademischen Mittelbaus. Nur hat sich dieser unter den diversen Hochschulreformen der vergangenen rund 25 Jahre so verändert, dass die Zeitschrift nicht mehr zu ihm passt. Auf blockierten und durch befristete Verträge prekären akademischen Karrierewegen, unter dem Druck zur Einwerbung sogenannter Drittmittel und der Produktion von Peer Review-Artikeln »läuft« die Zeitschrift nicht mehr. Konsequent verweigerte sich »Das Argument« den Moden und neuen Anforderungen. Es blieb ein Journal marxistischer Wissenschaft auf nach wie vor hohem Niveau. Aber der heutige akademische Nachwuchs, der das Fortleben der Zeitschrift sichern könnte, muss unter dem Druck wissenschaftlicher Parameter in anderen, oft englischsprachigen, Journalen schreiben. »Das Argument« ist hierin kein Einzelfall. Viele linke und politisch engagierte Zeitschriftenprojekte stehen vor ähnlichen Herausforderungen, wenigen gelingt es, sich an die neuen Erfordernisse anzupassen.

Forum des akademischen Marxismus

65 Jahre nach der Gründung des »Arguments« sind es harte Bedingungen für die Zeitschrift. Ein Rückblick auf all die Themen dieses intellektuellen Massivs, seine theoretischen Neuerungen, gewitzten Auseinandersetzungen und politischen Kontroversen würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. »Das Argument« war lange Jahre nicht nur wichtig, es war ein zentraler Referenzpunkt für einen progressiven und jungen intellektuellen Aufbruch. Die deutsche Neue Linke entwickelte ihre Argumentationen nicht zuletzt in dieser Zeitschrift, die ursprünglich als internationales Projekt angelegt worden war, von dem aber nur »Das Argument« überlebte.

Die Zeitschrift und ihre Assoziierten beackerten jedes Feld und jedes Thema, das für die lose Internationale der Neuen Linken wichtig war. Sie startete als Flugblatt studentischer Atomwaffengegner. Schnell wurde auch der Algerienkrieg aufgegriffen und entwickelte eine eigene Schubkraft, die vom Zerfall des französischen Kolonialreichs rasch Brücken in den Vietnamkrieg und über den Antikolonialismus zur Analyse des Imperialismus ermöglichte. Zeitgleich wurden Analysen des Nazismus als Faschismustheorien angestoßen. Gearbeitet wurde an einem Instrumentarium, das die faschistischen Gefahren rechtzeitig würde erkennen können. Heute wird nicht jede Wendung der damaligen Debatten Anklang finden. Aber angesichts von AfD, Milei oder Trump als Symptomen eines globalen Rechtsrutsches wirkt diese Haltung des »Arguments« nicht mehr kontrovers, sondern bitter nötig.

Herausgebendes Ehepaar: Wolfgang Fritz und Frigga Haug
Herausgebendes Ehepaar: Wolfgang Fritz und Frigga Haug

Parallel zu diesen Debatten eigneten sich die Zeitschrift und ihr Umfeld zuerst die Kritische Theorie und durch sie die marxistische Theoriebildung an. »Das Argument« wurde zu einem Forum eines akademischen Marxismus, den es an den deutschen Universitäten vor den 60er Jahren so nie gegeben hatte. Diese marxistische Grundierung blieb und durchzog alle weiteren Projekte in und um die Zeitschrift. Sie erstreckte sich in die von Frigga Haug ab den späten 70er Jahren betriebene Öffnung für den Feminismus, die einsetzenden ökologischen Diskussionen oder das seit jeher reiche Œuvre kultureller Analysen. Bei alledem blickten wache Augen auf die intellektuelle Umwelt: Der umfangreiche Rezensionsteil der Zeitschrift wurde ein Prunkstück.

Linke Projekte, insbesondere klar erkennbar marxistische, konnten während des Kalten Krieges leicht in politische Strudel geraten und im Ideologieverdacht ertrinken. »Das Argument« suchte die Nähe zur DKP und deren West-Berliner Filiale, der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins (SEW). Das Blatt ging allerdings nicht im Staatssozialismus auf, sondern beförderte Diskussionen um den westlichen Marxismus und versuchte, den südeuropäischen Eurokommunismus auch in Westdeutschland populär zu machen. Gorbatschows Perestroika wurde während der 80er Jahre emphatisch begrüßt und nach dem Fall des »Eisernen Vorhangs« rückten pluralistische marxistische Traditionen, die sich in den Vorjahren angebahnt hatten, in den Mittelpunkt.

Immer mehr Mammutprojekte

Aus diesen Debatten heraus entsprang die intensive Auseinandersetzung mit Antonio Gramsci, die bald den Rahmen der Zeitschrift überstieg. Dass es heute eine Übersetzung seiner Gefängnishefte ins Deutsche gibt, liegt am »Argument« und dem angeschlossenen Verlag, der die Edition ab 1991 herausgab. Nur wenig später widmeten sich »Das Argument« und sein Umfeld einem wahren Mammutprojekt. Begonnene Übersetzungen des französischen Wörterbuchs des Marxismus wuchsen sich zum HKWM aus, dem »Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus«. Das auf 15 Bände angelegte Begriffslexikon veröffentlichte jüngst den neunten Halbband »Mitleid bis Nazismus«. Bis heute tagt dessen Redaktion, die einen Kern langjähriger Weggefährten der Zeitschrift, aber auch viele jüngere Nachwuchskräfte umfasst, im Frühjahr am Wannsee, um über die nächsten Bände mit unzähligen Lemmata zu debattieren.

Es ist dieses Projekt, dem Wolfgang Fritz und Frigga Haug fortan ihre Energie widmen wollen. Dies geht zulasten ihres Einsatzes für die Zeitschrift. Würde »Das Argument« tatsächlich abtreten, verschwände mit ihm auch ein Produkt des westdeutschen Nachkriegsbooms, das gleichermaßen Resultat wie Mitgestalter der Hochschulexpansion ab den 60er Jahren war. Über sechseinhalb Jahrzehnte hat die Zeitschrift das Beste aus »ihrem« historischen Moment gemacht. Diese Zeiten nicht nur zu erkennen, sondern die sich hieraus ergebenden Möglichkeiten zu erspüren und nachhaltig zu nutzen, ist, wie man sagt, die eigentliche Kompetenz echter Intellektueller.

David Bebnowski ist Historiker und Sozialwissenschaftler. Er arbeitet am Amerika-Institut der LMU München im ERC-Projekt »The Arts of Autonomy« an einer Geschichte feministischen Drucks in Deutschland und den USA. 2021 erschien sein Buch »Kämpfe mit Marx. Neue Linke und akademischer Marxismus in den Zeitschriften ›Das Argument‹ und ›Prokla‹ 1959–1976«, Wallstein, 534 S., geb., 46 €.

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