Leben im Countdown

Internationales Sommerfestival auf Kampnagel: Lola Arias bringt ehemalige Inhaftierte in Hamburg auf die Bühne

  • Andreas Schnell
  • Lesedauer: 4 Min.
Nummernrevue mit Brüchen: »Los Días Afuera/The Days Out There« von Lola Arias
Nummernrevue mit Brüchen: »Los Días Afuera/The Days Out There« von Lola Arias

Freiheit ist ein stark strapaziertes Wort. Mit Inhalt füllt es sich nach der Deutschlandpremiere des Stückes »Los Días Afuera/The Days Out There« der Autorin und Regisseurin Lola Arias am Donnerstagabend: Die sechs Darsteller*innen, die gerade mehr als 90 Minuten lang von ihrem Leben vor dem Knast, im Knast und nach dem Knast erzählt haben, können es sichtlich immer noch kaum fassen, dass sie jetzt hier sind, in Europa, und von einem ausverkauften Saal bejubelt werden.

Nachdem »The Days Out There« Anfang Juli beim Festival d’Avignon Weltpremiere gefeiert hat, ist das Stück nun für drei Abende beim Sommerfestival des Hamburger Kulturzentrums Kampnagel zu Gast und zieht dann weiter durch Europa. Auch Paris steht auf dem Tourplan. Vor allem für Yoseli Marlene Arias (nicht mit Lola Arias verwandt) ein Sehnsuchtsort. Die junge Frau, 2017 wegen Drogenschmuggels festgenommen und 2021 aus dem Gefängnis entlassen, trägt den Eiffelturm als Tätowierung auf dem Rücken.

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Zwischen einem Monat und vielen Jahren verbrachten die Mitglieder des Ensembles im Frauengefängnis Ezeiza in der Nähe von Buenos Aires. »Die Zahl der Frauen im Gefängnis hat sich in Argentinien in den letzten zehn Jahren verdoppelt«, erklärt Arias in einem Interview. »Und dasselbe gilt für trans Personen.« Das habe eindeutig politische Ursachen.

Die meisten Insass*innen von Frauengefängnissen seien Drogenkuriere. Dass das nicht einfach ein illegales Hobby ist, versteht sich. Die vier Frauen und zwei trans Personen auf der Bühne kommen zumindest teilweise aus recht kaputten Verhältnissen, haben vor ihrer Zeit im Gefängnis Missbrauch, Gewalt, Armut erlebt. Die trans Personen waren und sind freilich trotz eines 2012 verabschiedeten Selbstbestimmungsgesetzes für trans und nicht binäre Personen zudem erheblicher Diskriminierung ausgesetzt. Und Paula Verónica Asturayme hat als Peruanerin immer wieder mit dem Rassismus der Mehrheitsgesellschaft zu tun.

Marginalisierte Perspektiven auf die Bühne zu bringen, ist seit Langem die theatrale Praxis der Autorin und Regisseurin, von Menschen, die ihr Geld auf der Straße verdienen, über Sexarbeiter*innen und unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bis hin zu Kriegsveteranen und Frauen aus der DDR. Auch die Welt des Strafvollzugs kennen die meisten von uns höchstens als Fiktion aus Film und Fernsehen, von ihren Bewohnern und Bewohnerinnen ganz zu schweigen.

Dabei wird das Leben hinter Gittern vor allem in dem parallel zum Theaterstück mit dem gleichen Ensemble entstandenen Film »Reas« verhandelt. Mehr als nur eine Ahnung davon liefert »The Days Out There« zwar, doch geht es hier, der Titel deutet es an, eher um das Leben nach der Haft, das das putzmuntere Sextett und Musikerin Inés Copertino auf der Bühne verhandeln: vor einem eher prosaischen Baugerüst (Bühne: Mariana Tirantte), das nicht nur an die biografischen Provisorien der Darstellenden denken lässt, sondern auch an die Gitterstäbe eines Gefängnisses – und natürlich auch an die Konstruktion von Bühnen an sich. Rechts davor steht noch ein abgeschnittenes Auto, in dem die Freigelassenen unterwegs resümieren, träumen und sich den Wind durchs Haar streichen lassen.

Niemand wählt sein Schicksal frei, niemand weiß, was passiert, gestern ist nicht wichtig, was kommt, wird man sehen – so singen sie gemeinsam. Was fast schon zu optimistisch scheint. Denn was wirklich nach dem Knast passiert, führen die sechs selbst vor: Das Bewerbungsgespräch endet spätestens bei der Frage nach eventuellen Vorstrafen.

Einige der Darsteller*innen haben sich im Gefängnis bei einem Bandprojekt kennengelernt. Die Musik ist für sie ein Weg aus dem feindlichen Alltag, ein Ausdrucksmittel, eine Möglichkeit, etwas anderes zu fühlen als die Anfeindungen der Mitmenschen und die Fragilität der ökonomischen Lage. So spielt Musik in »The Days Out There« eine große Rolle. Cumbia, Rock, Pop – die Songs, die Copertino begleitet, bisweilen von Teilen des Ensembles an Gitarre und Schlagzeug unterstützt, verleihen dem Abend den Charakter einer Nummernrevue.

Aber das ist schon in Ordnung. Es stülpt diesen Menschen keine Form auf. Die euphorische Innigkeit, mit der sie singen, tanzen und spielen, ist nicht zu übersehen. Und wenn sich romantischer Zuckerguss andeutet, ist der nächste Bruch nicht fern: Von der Gage für das Stück habe er sich einen Wassertank gekauft, berichtet Natal Delfino.

Das Internationale Sommerfestival auf Kampnagel findet noch bis zum 25. August statt.
www.kampnagel.de
»Los Días Afuera/The Days Out There« feiert seine Berliner Premiere am 14. September im Maxim-Gorki-Theater.
www.gorki.de

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