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Der unverschämt verschämte Antisemit
Essays von Jean Améry aus zehn Jahren, aktuell wie eh und je
Jean Améry war ein Opfer des Nationalsozialismus. Österreichischer Staatsbürger, 1912 geboren; Widerstandskämpfer in Belgien, im Januar 1944 nach Auschwitz deportiert. Im April 1945 aus dem KZ Bergen-Belsen befreit. »Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt«, schreibt der Schriftsteller und Essayist 1965. 13 Jahre später, im Oktober 1978, scheidet er mit 65 Jahren aus dem Leben.
Seit rund 20 Jahren liegen Amérys Schriften in einer neunbändigen Werkausgabe vor. Daraus hat die Herausgeberin Irene Heidelberger-Leonard ein Kapitel gesondert veröffentlicht, der Titel des Bändchens lautet: »Der neue Antisemitismus«. Es ist die Überschrift eines Essays von Jean Améry aus dem Jahr 1976.
»Wird der Antisemitismus wieder gesellschaftsfähig?«, fragt sich Améry vor bald einem halben Jahrhundert, und er gibt betroffen zu, dass er nach der industriellen Massenermordung durch Hitlers Bürokraten, Soldaten, Mediziner, Helfershelfer und Scharen von Herrenmenschen, eine solche Entwicklung nicht für möglich gehalten habe. Amérys Blick richtet sich nicht auf den »Stammtisch-Antisemitismus des deutschen und außerdeutschen Spießers«, wie er schreibt, sondern vielmehr auf jene, die diesen Begriff empört zurückweisen, ihn abstreiten und verleugnen. Es sei »der unverschämt verschämte Antisemit von heute«, ausgerechnet im linken Lager zu finden, zu dem Améry sich doch selbst zählt.
»Was sagt der neue Antisemit?«, fragt der Essayist und kommt zum Kern seiner Analyse. »Etwas überaus Einfaches und dem flüchtigen Blick auch Einleuchtendes: Er sei nicht der, als den man ihn hinstelle, nicht Antisemit also sei er, sondern Anti-Zionist!« Das heißt: Verfechter des palästinensischen Freiheitskampfes, Kritiker der israelischen Besatzungspolitik, Mahner der Vertreibung des »arabisch-palästinensischen Volks«.
Israel sei imperialistisch und kolonialistisch, werde in jenen Kreisen behauptet. Ja, gibt Améry zu, »die Existenz des Staates Israel« sei »so wenig ein Staat des Rechts wie irgendein anderer, aber nicht mehr ein Staat des Unrechts als die staatlichen Verbände der christlichen und außerchristlichen Welt«. Dann streicht Améry die Einzigartigkeit des Staates Israel als Refugium heraus. Es gebe zum Staat Israel »eine existentielle Bindung eines jeden Juden«. Als »virtuelles Asyl« bezeichnet er Israel, dort gebe es »die Möglichkeit, die Virtualität der Obdachfindung: Wer jemals als Heimatloser durch die Welt irrte, wird dies verstehen können.«
Aber auch Améry belastete das Recht auf Eigenstaatlichkeit der Araber. Bereits 1969 bezeichnet er den israelisch-arabischen Konflikt als »historische Tragödie ohne Beispiel«. Sieben Jahre später glaubt er, »die Lösung der palästinensischen Frage« sei »nur eine technische«. Also machbar. Doch die Gefahren seien höchst ungleich verteilt: »der von so viel Hass umbrandete Judenstaat« würde, ginge er unter, »seinen Bewohnern als Erbstück nichts hinterlassen als das Schlachtmesser des bereits zum Mord erzogenen Gegners«, fügt Améry hinzu. Wobei er seinerzeit nicht ahnen konnte, wie abgründig eine rechtsextreme Regierung in Israel auftreten könnte.
»Ohne jeden Zweifel hätte ihn die heutige Verwüstung Gazas«, schreibt die Herausgeberin Irene Heidelberger-Leonard in ihrem Vorwort, »Israels Antwort auf den Terror der Hamas, vollends an die Grenzen seiner Solidarität getrieben, umso mehr, als die Regierung Netanjahus keinerlei Perspektive auf eine Zweistaatenlösung offenlässt.« Und es in dieser rechtsextremen Regierung sogar Stimmen gibt, die den Palästinensern das Existenzrecht absprechen, kann man hinzufügen.
Anfang September 1977, ein Jahr vor seinem Freitod, schreibt Améry in der Wochenzeitung »Die Zeit« unter der Überschrift »Grenzen der Solidarität«: »Ich fordere jeden Juden, wenn er Mensch sein will, dringlich auf, mit mir in der radikalen Aburteilung der Tortur als System übereinzustimmen. Wo die Barbarei beginnt, dort muss selbst die Existenz endigen.« Er lässt ein verzweifeltes Plädoyer an die Vernunft folgen: »Erkennt, dass eure Freiheit nicht gegen den palästinensischen Vetter errungen werden kann, nur mit ihm – und möge dieser auch zur Stunde noch von Freiheit nichts wissen und euch in wildem Rachedurst an die Kehle wollen.«
Als geradezu »erschreckend aktuell«, bezeichnet die Herausgeberin diese Texte Amérys aus den Jahren 1969 bis 1978. Der Essayist verzweifelt in dieser Zeit zunehmend am Politikverständnis der Linken, denen er sich doch zugehörig fühlt. Ein ums andere Mal wiederholt er seine Sicht – und argumentiert gegen Verengung der Sichten, Einäugigkeit, Blindheit, kurz: gegen die »Geschichts- und Humanitätsblindheit« der Linken. »In Israel ist metaphorisch gesprochen, jedermann Sohn, Enkel, eines Vergasten«, schreibt er 1969, »Israel ist – aber wie soll man jungen Menschen das deutlich machen? – kein Land wie irgendein anderes: Es ist die Zufluchtsstätte, wo Überlebende und Verfolgte nach langer Wanderschaft sich in tiefer Erschöpfung niederließen.«
Die Aufsätze sind mühevolle Geistesarbeit, tiefgreifende Argumentation unter Einbeziehung von Gegenargumenten, sachte, human, tastend. Es ist eine quälende Selbstbefragung, also das Gegenteil dessen, was heutzutage in der Debattenkultur zumeist vorherrscht. Das Büchlein ist von der Herausgeberin hurtig zusammengestellt, leider ohne Anmerkungen zu den zeitgebundenen Texten aus den Jahren 1969 bis 1978. Hintergründe und Anspielungen erschließen sich so nur Lesern mit Vorkenntnissen.
Jean Améry: Der neue Antisemitismus. Klett-Cotta, 126 S., geb., 18 €.
»Erkennt, dass eure Freiheit nicht gegen den palästinensischen Vetter errungen werden kann, nur mit ihm – und möge dieser auch zur Stunde noch von Freiheit nichts wissen und euch in wildem Rachedurst an die Kehle wollen.«
Jean Améry
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