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Schwache Wirkung, heftige Nebenwirkungen
Forschungserfolge in der Bekämpfung der Alzheimer-Demenz überzeugen nicht in jeder Beziehung
Lecanemab (Handelsname Leqembi), ein neuer Alzheimer-Antikörper, wird Patienten in Deutschland vermutlich nicht so schnell zugutekommen: Der zuständige Ausschuss der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) sprach sich Ende Juli gegen eine Zulassung des Medikaments in der EU aus. Jedoch ist der spezielle Antikörper in anderen Staaten bereits zugelassen, darunter in den USA, in Israel, Japan, China und Südkorea.
Das Argument der EMA lautet, kurz gefasst: Zwar verzögere das Mittel den kognitiven Abbau, aber das Risiko schwerer Nebenwirkungen werde damit nicht aufgewogen. Schaut man genauer auf die Zulassungsstudie, zeigt sich, dass hier durchaus kein Medikament vorliegt, das vielen oder gar allen Alzheimer-Patienten helfen würde. Von den knapp 1800 Probandinnen und Probanden erhielten etwa die Hälfte 18 Monate lang eine Infusion mit dem Medikament, die anderen nur ein Placebo. In diesem Zeitraum schritt die Krankheit bei der ersten Gruppe um 27 Prozent langsamer voran als bei der zweiten Gruppe. Gestoppt wurde der kognitive Abbau aber auch in der Verum-Gruppe nicht.
Wie lässt sich die Wirkung beschreiben? Die Krankheit entwickelt sich langsamer – aber sie schreitet dennoch voran. Die Verzögerung kann, bezogen auf anderthalb Jahre, auf fünf Monate beziffert werden. Das geht aber von milden Symptomen zu Krankheitsbeginn aus, wenn das Leiden oft ohnehin nur langsam voranschreitet. Entsprechend ist Lecanemab nicht nur für Menschen in einem frühen Stadium gedacht, sondern auch für jene in einem Vorstadium. Das beschriebene Maß der erreichbaren Verzögerung wird jedoch auch von Experten skeptisch gesehen. So erklärte Anne Pfitzer-Bilsing, Leiterin der Abteilung Wissenschaft der Alzheimer-Forschung-Initiative e.V., es sei »unklar, ob der Effekt für Betroffene überhaupt spürbar ist«.
Das beschriebene Maß der erreichbaren Verzögerung des Alzheimer-Verlaufs wird von Experten skeptisch gesehen.
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Die Biochemikerin ist für den größten privaten Förderer der Alzheimerforschung in Deutschland tätig. Die Initiative und ihre Stiftung wollen erreichen, dass Alzheimer heilbar wird. Für aussichtsreiche Forschungsprojekte wird Geld gesammelt. Außerdem klärt der Verein regelmäßig Betroffene und Angehörige über die Krankheit auf – und muss nicht selten zu hohe Erwartungen bremsen.
Wo setzt das neue Medikament an? Es entfernt schädliche Eiweißablagerungen im Gehirn, unter diesen die sogenannten Amyloid-Plaques. Diese werden zwar schon länger nicht mehr für die einzige Ursache von Alzheimer gehalten, aber immer noch für eine mögliche. Neu an Lecanemab und an zwei weiteren Wirkstoffen (Aducanumab und Donanemab) ist, dass sie hier ursächlich ansetzen. Von einem Fortschritt in der Forschung kann also durchaus gesprochen werden, aber eine Weiterentwicklung scheint auch im Sinne von Patienten und Kostenträgern unverzichtbar.
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Das liegt auch am Aufwand: Die möglichen Nutznießer der Therapie müssen alle zwei Wochen in ein Infusionszentrum kommen. Weil es aber in der Zulassungsstudie bei etwa 13 Prozent der Patienten zu einer Hirnschwellung und bei fast 18 Prozent zu Mikroblutungen im Gehirn kam, teils mit schwerem Verlauf, sind auch regelmäßige MRT-Kontrollen nötig. Dieses Bildgebungsverfahren mit Hilfe von Magnetfeldern und Radiowellen dauert jeweils zwischen 20 und 30 Minuten. Das Risiko für die genannten, nicht ungefährlichen Nebenwirkungen ist für 15 Prozent der Patienten besonders hoch, die ein bestimmtes und hohes genetisches Alzheimer-Risiko haben, sie sollten diese Therapie eigentlich nicht erhalten, ebenso wenig wie Menschen mit weit fortgeschrittenem Verlauf und weiteren mit hohem Schlaganfallrisiko.
Zu der notwendigen Infrastruktur für Frühdiagnostik, Infusionsplätze und Bildgebung kommen noch die eigentlichen Kosten für das Medikament hinzu: Jährlich wurden in den USA dafür pro Patient 26 500 US-Dollar veranschlagt. Angesichts dieser Kosten ist es nicht verwunderlich, dass Lecanemabs japanischer Hersteller Eisai, die EMA-Entscheidung prüfen lassen will. Das dürfte auch im Sinne etlicher Praktiker, etwa von Neurologen sein, beobachtet man die Diskussionen zu dem Medikament in Deutschland.
Auch aus dieser Berufsgruppe wird aber auf das große Potenzial der Alzheimer-Prävention verwiesen: So erklärte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, Lars Timmermann, dass insgesamt 35 Prozent aller Demenzen durch Lebensstil und die Ausschaltung verschiedener Risikofaktoren verhindert werden könnte. Bisher gab es laut einer Kommission der medizinischen Fachzeitschrift »Lancet« 12 vermeidbare Erkrankungsrisiken für Demenz, darunter die Abnahme der Hörfähigkeit, Bluthochdruck, Übergewicht, Rauchen, Diabetes mellitus, Depression und geringe soziale Kontakte. Seit neuestem werden auch hohe Cholesterinwerte und abnehmendes Sehvermögen dazu gezählt.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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