Liebesfilme stimmen nicht

Drehbücher aus Casablanca: Meryem Alaouis Debütroman »Pferdemund tut Wahrheit kund«

  • André Dahlmeyer
  • Lesedauer: 5 Min.
Typische Szene in einer marokkanischen Altstadt noch heute
Typische Szene in einer marokkanischen Altstadt noch heute

Ein prosperierendes Nischendasein hat sich die marokkanische Literatur im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahren erarbeitet, was vordergründig Autor*innen wie Leila Slimani, Mahi Binebine, Tahar Ben Jelloun sowie Mohamed Choukri mit seinem Roman »Das nackte Brot«, der lange Zeit in seinem Herkunftsland verboten war, zu verdanken ist. Echte Underground- oder Samisdat-Autor*innen haben es bislang nicht in die Bücherkaufhäuser Europas geschafft.

Die Themen zumindest der hier übersetzten Werke wiederholen sich. Ganz oben stehen Armut, das brutale Patriarchat und die überwiegende Perspektivlosigkeit bei Heranwachsenden. Thematisch passt auch die 1975 in Casablanca geborene Autorin Meryem Alaoui in dieses Raster. Ihr viel beachteter und preisgekrönter Debütroman »Pferdemund tut Wahrheit kund« schaffte es in die Vorauswahl des Prix Goncourt, des wichtigsten französischen Literaturpreises, und wurde längst ins Englische und Spanische übersetzt.

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Protagonistin ist die 34-jährige Dschmiaa, die seit 15 Jahren als Sexarbeiterin anschafft, um sich und ihre kleine Tochter irgendwie durchzubringen. Ihr Lebensmittelpunkt ist in der Altstadt Casablancas verortet. Alles begann für sie wie ein Liebesfilm im Fernsehen, als sie entgegen der Einwände ihrer Mutter den Schönling Hamid heiratete, einen Stenz, wie er aus der Klischeebibel fällt. Schnell geht der Horror los, physische und psychische Schläge werden zum Normalzustand. Ihr Mann ist auf Haschisch hängengeblieben und nicht mehr zurechnungsfähig.

Für Dschmiaa bleibt von dieser Beziehung »nur die kalte Asche der Glut, von der du dachtest, du würdest damit Tausende Hammel rösten.« Hamid verkauft seine Frau an andere Männer, sie wird vergewaltigt, wie es ihnen gerade gefällt und er sahnt ab. Quasi über Nacht fällt Dschmiaa in die Dunkelwelt der gemeinen Niederträchtigkeit. Diese Vorgeschichte wird von Alaoui scharfgezeichnet, fern jeder Opferrolle. Dschmiaa wird eine ruppige Wehrhaftigkeit umgehängt, die sie bis zu einem gewissen Punkt sympathisch erscheinen lässt. Sie mag eine »starke« Frau sein, den Umständen geschuldet, aber emanzipiert oder gar »unabhängig«, wie es einige Leuchten der Fastevolution im Netz salbadern, ist sie ganz sicher nicht. Wer von einem Zuhälter abhängig ist, ist nicht unabhängig.

Als Dschmiaa kurz vor der Flucht ihres Ehemannes nach Spanien schwanger wird, will sie das Baby weder stillen noch Windeln wechseln und auch nicht küssen. Kurze Zeit später schiebt sie die kleine Samia zu ihrer Mutter ab. Als unmoralische Person ist Dschmiaa ein Puzzlestück und Abbild der Gesellschaft. Dass alle unerträglich sind, macht es erträglicher für Leser, nur was Alaoui mit dieser Typisierung bezwecken will, wird nicht klar. Sie selbst entstammt einem gutbürgerlichen Elternhaus, ihr Vater war ein hochdekorierter Politiker, der Verse schrieb.

Dschmiaa ist pragmatisch, mehr oder weniger realistisch, handlungsfreudig und komplett fern von allem Emotionalen. Wenn sie einen teuren Freier hat, kassiert sie im Idealfall sieben Euro. Sie artikuliert sich in der Sprache der Straße, direkt und roh, ironisch und manchmal zynisch, und hält sich so vermeintlich die äußere Welt vom Leib.

In einer Passage lässt Alaoui unterschiedliche Freier-Typen aufmarschieren, zum Beispiel »den Rasenden«: »Dein Arsch ist sein Recht. Während er dahergaloppiert wie ein eifriger Polizist, tritt er um sich, drischt auf dich ein, reißt dir die Schulter ab. Er sieht ihm zujubelnde Menschenmengen, du wirst gepeitscht von seinen Händen und der Luft, die er mit seinem Ritt aufwirbelt. Sobald er fertig ist, blickt er herausfordernd und drohend auf sein Reich. Doch dann begegnet ihm sein klebriger Ruhm in deinen Augen, und aus Illusion wird Hass. Er schlägt zu, weil er doch nur er selbst ist. Ein gequälter, trunkener, einsamer Mann.«

Die Liebesfilme des US-Kinos enden immer mit der Hochzeitsfeier. Im Rückblick versteht die fernsehsüchtige Dschmiaa jedoch, dass »dir die Drehbuchautoren, diese Schufte, nicht sagen, wohin die Reise geht. Stattdessen lassen sie dich nach dem Hochzeitsfest hängen«. Nun schreibt Meryem Alaoui das Drehbuch des Lebens von Dschmiaa einfach um. Und tatsächlich ist es der Film, der ihr die Tür zu einem anderen Leben öffnet. Eine junge, niederländisch-marokkanische und eher hippieeske Regisseurin betritt die Bühne, die ihren Erstling über das Viertel und eine Prostituierte drehen möchte. Dschmiaa tauft sie gedanklich »Pferdegebiss«. Sie bekommt sogar die Hauptrolle, aber es ist mitnichten die Hauptrolle ihres eigenen Lebens. Es wird bollywoodesk: Dschmiaa avanciert zum gefeierten Filmstar.

Im eigenen Viertel wird sie nun gefeiert: »Alle wollten wissen, wie es auf der anderen Seite ist.« Schon bald sitzt sie im Flieger nach L.A., um Preise einzuheimsen. Die Haupthandlung spielt zwischen Juni 2010 und 2013. Der sogenannte Arabische Frühling wird nur gestreift. »In Casablanca und ganz Marokko geht nun auch alles drunter und drüber, seit dieser Tunesier sich mit Benzin übergossen hat. Schon seit zwei Sonntagen wird das Stadtzentrum nie leer. All die Leute, die Mangel leiden, nichts zu beißen haben, Krieg gegen ihre Frauen führen, mit ihrer Beschneidung nicht zufrieden sind, sie alle gehen auf die Straße.«

Alaoui lässt diese Zeit des Aufruhrs nur unter negativen Vorzeichen aufblitzen: Frauen aus Dschmiaas Stand werden zum Freiwild, für die im revolutionären Rausch taumelnden Jugendlichen genauso wie für die Religiösen. Im Vergleich zu den Nachbarstaaten blieb es in Marokko politisch relativ ruhig. König Mohammed VI. kündigte kurz nach den ersten Massendemonstrationen eine Verfassungsreform an (die freilich die Unterdrückung zementierte).

Die mit dem Regimekritiker Ahmed Reda Benchemsi verheiratete Meryem Alaoui lebt nach ihrer New Yorker Emigration seit 2018 wieder in Marokko. In »Pferdemund« sind Frauen attraktiv, wenn sie kräftig sind und Augen haben, »so schön wie Kuhaugen«. Ihr zweiter 2023 bei Gallimard erschienener Roman »Sweet Chaos«, angesiedelt in New York, wird wohl niemand mehr vom Bollerofen weglocken, es sei denn, man steht auf Swinger-Clubs.

Meryem Alaoui: Pferdemund tut Wahrheit kund. A. d. Franz. v. Barbara Sauser. Lenos-Verlag, 312 S., geb., 26 €.

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