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Afghanistan: Die Diktatur der Mullahs
Die Taliban verhängen Bildungs- und Arbeitsverbote und machen Jagd auf ehemalige afghanische Soldaten
»Ich denke nicht, dass ich das Geschehen verarbeitet habe«, sagt Samim*, Mitte Zwanzig. Er versucht ruhig und konzentriert zu sein, sobald er sich an jenen 15. August 2021 erinnert. Während Samim im Norden Afghanistans als Elitesoldat der afghanischen Armee gegen die Taliban kämpfte, brach in Kabul die Regierung zusammen. Ashraf Ghani, der letzte Präsident, flüchtete mit seinen Beratern, während die militanten Islamisten nach 20-jähriger Abwesenheit ihre Flagge in der Hauptstadt hissten. Zeitgleich herrschte am Kabuler Flughafen Chaos, denn die Nato war unter der Führung des US-Militärs mit ihrem Abzug beschäftigt. Tausende Afghanen und Afghaninnen wurden evakuiert. Der »War on Terror« der US-Amerikaner war vorbei. Die Taliban deklarierten sich als Sieger und verkündeten die Wiedererrichtung ihres »Islamischen Emirats«.
Seitdem herrscht die Diktatur der Mullahs. Es gibt Bildungs- und Arbeitsverbote, Zensur und zahlreiche Repressalien. Seit drei Jahren dürfen Afghaninnen keine Oberstufenschulen mehr besuchen. Seit Ende 2022 besteht außerdem ein landesweites Universitätsverbot für Frauen. Erscheinen sie auf dem Campus, werden sie von bewaffneten Taliban-Kämpfern verjagt oder haben Schlimmeres zu befürchten. Presse- und Meinungsfreiheit existieren nicht mehr. Auf allen Kanälen dominiert meist Taliban-Sprech. Ausländische Journalisten müssen sich beim Regime akkreditieren. Ansonsten droht die Gefahr, als Spion oder Ähnliches verhaftet zu werden. Was zum Alltag hinzukommt, sind die gesundheitlichen Folgen der Kriege der vergangenen Jahre, massive Armut, Hungersnot sowie die Auswirkungen des Klimawandels. Für die Taliban ist vieles davon irrelevant. Was zählt und dieses Jahr abermals zelebriert wird, ist der »Sieg« gegen ihre Feinde.
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Taliban-Deal über die Köpfe der Afghanen
»Das war kein Sieg, sondern eine Farce«, meint Samim verbittert. Die Taliban hätten nur den Moment ausgenutzt und von der Machtpolitik der USA profitiert. Wie viele andere Afghanen spielt der Ex-Soldat auf das Geschehen nach dem Doha-Deal an, den Washington im Februar 2020 mit den Taliban im Golfemirat Katar unterzeichnet hatte. Damals einigten sich beide Seiten nach langen Verhandlungen auf einen Truppenabzug unter bestimmten Bedingungen, etwa dass Afghanistan kein Unterschlupf für international agierende Terrorgruppen werden dürfe. Das Abkommen ließ die damalige Kabuler Regierung außen vor. Ein Umstand, der von vielen Beobachtern kritisiert wurde und vor allem die Armee demoralisierte. »Nach der Unterzeichnung des Deals wurden 5000 Taliban-Gefangene freigelassen. Die kehrten mit ihren Einheiten zurück aufs Schlachtfeld«, erklärt Samim.
Mit der endgültigen Rückkehr der Taliban brach für ihn die Welt zusammen. Nachdem er erfahren hatte, dass die politische Führungsriege geflüchtet war, warf er seine Uniform weg und fuhr nach Kabul – in ziviler Kleidung. Er hoffte, dass die Taliban ihn vergessen und nicht nach ihm suchen würden. Diese Annahme war falsch. Trotz Amnestieversprechen machten die Taliban Jagd auf ehemalige Soldaten der Republikarmee. Allein in den ersten Wochen und Monaten nach ihrer Rückkehr wurden laut Menschenrechtsorganisationen und verschiedenen Medienberichten Dutzende Soldaten verschleppt, gefoltert und ermordet. Auch Samim wurde zum Ziel. Seine Heimatprovinz Logar wurde bereits vor dem August 2021 in weiten Teilen von den Extremisten kontrolliert. In seinem Dorf wurde nun gezielt nach ihm Ausschau gehalten. Währenddessen hoffte der Ex-Soldat weiterhin, von der Bundeswehr evakuiert zu werden. Laut seinen Angaben hatten ihm das seine einstigen Kameraden versprochen. »Wir zählten auf unsere Nato-Verbündeten«, so Samim heute. Viele Kommandoeinheiten kämpften an der Seite der Nato-Truppen. Die Einheiten waren bekannt für ihre brutale Erfolgsquote. Meist wurden sie als Himmelfahrtskommandos in Gebiete geschickt, die die reguläre Armee nicht mehr verteidigen konnte.
Als klar wurde, dass niemand kommen würde, um Samim zu retten, flüchtete er mit eigenen Mitteln. Mit Schleppern gelangte er in den Iran und in die Türkei. Nach einigen Wochen befand er sich auf dem europäischen Festland. Sein Ziel war Deutschland, denn dort, so dachte er zumindest, würde man ihn, den Ex-Soldaten, der gemeinsam mit der Bundeswehr gekämpft hat, schnell aufnehmen. Heute lebt Samim in einem Geflüchtetenheim nahe Bielefeld. Seine Zukunft ist ungewiss, denn sein Asylantrag wurde abgelehnt. Während Samim hier ankam, griffen die Taliban seine Familie in Logar an. Ihr Haus wurde angezündet. Der jüngere Bruder, der Samim zum Verwechseln ähnlich sieht, wurde von den neuen Machthabern ermordet. »Es ist ein fortwährendes Trauma«, so Samim.
Kriegsverbrechen von allen Seiten
Jemand, der weiß, wie es Samim geht, ist sein einstiger Kamerad Walid*. Er versteckt sich bis heute vor den Taliban – mitten in Kabul. »Hier kennt mich niemand. Ich habe in anderen Regionen kämpft«, erklärt er. Dennoch ist er in Gefahr. Viele Taliban-Checkpoints rotieren oft und ziehen weiter, sobald der Befehl von oben da ist. Das bedeutet, dass auch jene Kämpfer, die Walid in anderen Landesteilen suchen, plötzlich in Kabul patrouillieren könnten. Dass die Walid an den Kragen wollen, kann er, wie er sagt, irgendwie verstehen. »Es war Krieg. Ich habe bis zum letzten Tag viele von ihnen getötet«, sagt er.
Während des 20-jährigen Krieges in Afghanistan fanden zahlreiche Kriegsverbrechen statt, die von allen Seiten verübt wurden. Während die Taliban regelmäßig mit Selbstmordattentaten für Aufsehen sorgten, wurden die Operationen der Armee, die manchmal sogar von den US-Vorgesetzten kritisiert wurden, seltener beachtet. »Die meisten, die wir töteten, waren wohl Zivilisten«, meint Walid heute. Das sei falsch gewesen, doch es war auch die Schuld der Taliban, die sich unter den Unbeteiligten versteckt hätten. »Ich werde vor Gott für meine Fehler büßen, aber vor keinen Taliban-Richter treten«, sagt der Ex-Soldat, während er sich in seinen Patu, einen afghanischen Wollumhang, einwickelt.
Für Samim hingegen wäre ein Aufenthalt in Afghanistan undenkbar. »Die meisten meiner Kameraden sind weg. Sie stellen sich wie ich die Frage: Wofür habe ich überhaupt gekämpft?«
* Namen wurden von der Redaktion verändert.
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