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Gehen, wo niemand geht

Verloren im Beton: In »Bannmeilen« erforscht Anne Weber die Pariser Banlieues

  • Fokke Joel
  • Lesedauer: 4 Min.
In den Pariser Vororten kommt es immer wieder zu Ausbrüchen der Wut und Verzweiflung.
In den Pariser Vororten kommt es immer wieder zu Ausbrüchen der Wut und Verzweiflung.

Paris ist eine kleine Stadt. Zumindest im Vergleich zu anderen europäischen Großstädten. Denn als Paris gilt nur, was sich innerhalb Périphérique, der Stadtautobahn befindet. Hier leben rund 2,1 Millionen Menschen, allesamt mehr oder weniger privilegiert, denn die Mieten in Paris sind hoch. Der Rest der Stadt, die ja eigentlich 12,5 Millionen Einwohner hat, liegt außerhalb der Périphérique, in der sogenannten Banlieue. Hier wohnen die, die sich der Lieblosigkeit des Kapitalismus wegen die »Stadt der Liebe« nicht leisten können.

Anne Weber, die deutsche Autorin und Buchpreisträgerin, lebt seit langem in Paris. In die Banlieue ist sie jedoch nur selten gefahren. »Ich hatte ferne Kontinente bereist, hatte Städte erforscht und Inseln erwandert«, schreibt sie in ihrem neuen Buch »Bannmeilen«, wie man Banlieue übersetzen könnte, »aber für das Fremde und Andere in nächster Nähe war ich blind geblieben.«

Als sie Thierry, ein befreundeter Dokumentarfilmer, fragt, ob sie ihn bei den Recherchen begleiten will, die er zu einem Film über die Veränderungen durch die Olympia-Bauten in der Banlieue machen will, sagt Weber sofort zu. »Gehen, wo niemand geht. Wo niemand geht, weil nur Autos fahren, oder wo niemand geht, weil es nichts zu sehen und zu holen gibt. In verlorenen Ecken, an gehsteiglosen Schnellstraßen.« Aber auch dort leben Menschen, die illegalen Migranten. »Kannst du dir das vorstellen«, fragt Thierry, »diese ganze Reise durchzumachen – ich verstehe, dass er sagen will: von Afrika nach Europa –, diese ganze Reise durchmachen, um dann hier anzukommen?«

Thierry selbst hat einen algerischen Vater, der sich mit einer kleinen Elektrofirma hochgearbeitet hat. Er kam mit siebzehn nach Frankreich, um bei Renault zu arbeiten und hat eine Französin – Thierrys Mutter – geheiratet. Im »neuf trois«, dem nach der Postleitzahl 93 benannten Gebiet im Nordosten der Region Paris, ist Thierry aufgewachsen. Sein Vater, sagt er, hätte lieber in Algerien bleiben sollen. Dort wäre er zumindest zufrieden gewesen. Stattdessen habe er versucht, sich so schnell wie möglich zum Franzosen zu machen. »Seinen eigenen Nachnamen habe er zu seinem Leidwesen zwar offiziell nicht loswerden können, doch niemand habe ihn je unter seinem wirklichen Vornamen Ahmed gekannt. Bei all seinen Freunden habe er sich immer als Marcel ausgegeben. Die meisten hätten gar nicht gewusst, dass er Algerier war.« Wenn Anne Weber für Thierrys Vater Verständnis aufzubringen versucht, hört für Thierry der Spaß auf. »Der Spaß hört auf, heißt bei ihm, dass er weiter lacht. Oder in spaßhaftem Ton redet. Nur der Ton ist ein härterer, höhnischerer.«

Das Lachen, die Ironie, der Herumfrotzeln gehört zu den Streifzügen von Weber und ihrem Freund dazu. Dabei nimmt Thierry die Rolle des traditionellen Arabers ein, »der er nicht ist« und Anne Weber die des Bobos, des »Bourgeois Bohémien«, die sie mehr oder weniger sei. Als Weber verzweifelt ein Café mit einer Toilette sucht, finden sie keines, in das sie sich traut, denn in allen Cafés sitzen ausschließlich Männer. »Wie machen das denn die Frauen bei dir, wenn sie außer Haus sind und mal aufs Klo müssen?, frage ich Thierry (…) Unsere Frauen sind nicht außer Haus, und wenn, dann müssen sie nicht aufs Klo. Draußen-aufs-Klo-Gehen ist haram, sagt er mit einiger Ironie in der Stimme.« Es sind Gespräche, bei denen Reflexion und Selbstreflexion noch einmal philosophisch vertieft werden und alltägliche Widersprüche zu Tage treten, die sonst unausgesprochen bleiben würden.

»Bannmeilen« ist ein Buch über Anne Weber und ihren Freund, über Herkunft und Mirgration. Es weckt das Interesse an Bereichen der Gesellschaft, gleich in der Nachbarschaft, die keiner sehen will. Es ist eine Ehrenrettung der Menschen, denen nichts anderes übrig bleibt, als dort zu leben, wo andere wegziehen, neben Autobahnen im Müll oder in den unmenschlichen Betonsilos der Satellitenstädte, abgeschnitten von einem funktionierenden sozialen Umfeld. Das ist oft traurig und deprimierend.

Aber dann treffen die beiden Wanderer in Saint Denise auf das Café »Le Montjoie«. Drei Gäste sitzen an der Theke, »von denen zwei – ZWEI – Frauen sind … Bonjour! Bonjour! Bonne année – schönes neues Jahr!, schallt es uns entgegen.« Der Inhaber stammt aus einer algerischen Familie, aber seine Gäste sind, wie sich später, nach vielen Besuchen der beiden herausstellt, bunt zusammengewürfelt: Algerienfranzosen, Marokkaner, Franzosen und sogar ein ehemaliger Soldat, der gegen die Unabhängigkeit Algeriens gekämpft hat. Und natürlich ist auch ein Le-Pen-Wähler dabei.

Anne Weber: Bannmeilen. Ein Roman in Streifzügen. Matthes & Seitz, 301 S., geb., 25 €

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