Fusterlandia: Havannas Wunderland

Ein Langzeitprojekt von José Fuster verzaubert ein ganzes Viertel der Hauptstadt. Auch deutsche Künstler kommen zu Kubas Biennale

Die fantasievoll gestalteten Häuser von Fusterlandia mit ihren verspielten Skulpturen bilden ein farbenfrohes Ensemble.
Die fantasievoll gestalteten Häuser von Fusterlandia mit ihren verspielten Skulpturen bilden ein farbenfrohes Ensemble.

Es ist nicht zu übersehen: In Jaimanitas ist die Fantasie an der Macht. Fassaden, Parke, Mauern und Bänke sind mit farbenfrohen Mosaiken in surreale Kunstwerke verwandelt worden, auf den Dächern ragen verspielte Skulpturen empor. Die Bildsprache der karibisch-fröhlichen Motive dichtet eine Hymne auf das Leben. Und vor allem besingt sie Kuba, seine Menschen, seine Kultur und Geschichte.

Bevor hier Meerjungfrauen und andere Fabelwesen einzogen, hätten es sich die Bewohner des verschlafenen früheren Fischerdorfes, gelegen ganz am westlichen Ende von Havanna an einer Bucht zwischen dem Nobelviertel Miramar und dem Yachthafen Marina Hemingway, wohl nicht träumen lassen, was die Zukunft für ihren Stadtteil bereithielt. Heutzutage trägt ihr Barrio auch den Künstlernamen Fusterlandia und ist eine der größten Attraktionen der kubanischen Hauptstadt.

Seit einigen Jahren steuern Tourbusse über Havannas lange Uferstraße Malecón, vorbei an den großen Hotelbauten in Vedado und über die hinter dem Fluss Almendares startende 5. Avenida das Künstlerviertel in Randlage an. Andere Besucher heuern für den Weg hierher einen der berühmten Ami-Schlitten aus vorrevolutionären Tagen als Taxi an – über den Fahrtpreis bestimmt ihr Verhandlungsgeschick. Günstiger geht es mit einer nationalen Sim-Karte und »La Nave«; die kundenfreundliche App eines kubanischen Start-ups ist das Gegenstück zu Uber.

Herzstück von Fusterlandia ist das Zuhause des namensgebenden Künstlers José Fuster – der Ort, wo vor mehr als vier Jahrzehnten alles begann. Besucher bestaunen das über mehrere Etagen reichende Labyrinth von Wohnhaus und Werkstatt und kaufen hier echte Kunst von Fuster. Das Angebot reicht von preiswerten Untersetzern oder bemalten Fliesen bis zu kostspieligen großformatigen Werken des Bildhauers, Malers und Grafikers, der 1946 als Arbeitersohn in der Ortschaft Caibarién an der Nordküste von Zentralkuba geboren wurde. Häufig ist der Meister selbst vor Ort und erzählt Gästen von seinen Projekten.

Rund um das Haus von Fuster in Jaimanitas blüht der Handel mit Kunst und Souvenirs.
Rund um das Haus von Fuster in Jaimanitas blüht der Handel mit Kunst und Souvenirs.

Nicht zu übersehen ist hier überall, dass der »Picasso der Karibik« ebenso vom Kubismus des spanischen Malers wie von der verspielten Formensprache des katalanischen Architekten und künstlerischen Neuerers Antoni Gaudí inspiriert wurde. Auch mit dem Österreicher Friedensreich Hundertwasser wird er verglichen. Fusters an die Naive Kunst angelehnten Werke leben von Motiven und Symbolen, die er aus der Natur, der Mythologie, den Religionen und ganz besonders dem einfachen Leben der Menschen auf der Insel gewinnt. Fuster nennt das »magischen Realismus«.

Die augenfälligsten Arbeiten sind im wahrsten Sinne Stück für Stück entstanden. Palmen und Blumen, Heiligenfiguren und Herzen, Bauern mit Hüten und Gitarren, Fischer und Meerestiere, Sonne und Rum, Hähne und üppige Frauen zählen zu den immer wiederkehrenden Motiven auf den Mosaiken Fusters.

Mit solchen dekoriert und in malerische Kunstwerke verwandelt wurden von Fuster und seinen Mitwirkenden im Laufe der Jahre weit über 100 Häuser in der Nachbarschaft des von ihm und seiner Familie bewohnten Museums. Für die Menschen in Jaimanitas und für weitere Künstler, die der Ort anzog, hat dieser Wandel eine Reihe von positiven Aspekten. Mit dem Geld, das Fuster mit seiner Kunst verdient, sorgt er hier nicht nur für Verschönerung, sondern fördert damit auch an allen Ecken und Enden die Entwicklung der Gemeinde. Die Gestaltung und Instandhaltung von Fusterlandia schafft Arbeitsplätze und die hierher kommenden Touristen bedeuten Einnahmen auch für viele im Umfeld der Casa de Fuster.

Die Präsenz von Fusters Werk beschränkt sich längst nicht auf das verzauberte Viertel. Als Maler, Illustrator, Bildhauer und Keramiker zählt er zu den herausragenden zeitgenössischen Künstlern seines Landes. Ihm gewidmete Ausstellungen waren unter anderem in den USA sowie in Italien, Spanien, Frankreich, Deutschland und Großbritannien zu sehen. In Kuba und international sammelte Fuster für seine Arbeit zahlreiche Preise ein.

Die kubanische Berühmtheit Fuster hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er die Ideale teilt, die mit Fidel Castro und der Revolution von 1959 verbunden sind. »Dein Projekt, das auch meines ist«, habe ihn inspiriert, schrieb er im August 2010 dem Revolutionsführer und langjährigen Präsidenten in einem persönlichen Glückwunsch zum 84. aus »Jaimanitas, meinem Schützengraben«.

Haustürgeschäft in Alt-Havanna. Viele Alte haben es in der Krise besonders schwer.
Haustürgeschäft in Alt-Havanna. Viele Alte haben es in der Krise besonders schwer.

Eine prägende Erfahrung war für Fuster 1961, das in Kuba zum »Jahr der Bildung« erklärt worden war, seine Beteiligung an der Alphabetisierungskampagne für Bauern in der Sierra Maestra im Osten der Insel. Zwei Jahre später begann er ein Kunststudium in Havanna. Konkrete Veränderungen zum Besseren für seine Gemeinde und darüber hinaus mit den Mitteln der Kunst sind die Aufgabe, der sich José Fuster verschrieben hat. Erzieherische, kulturelle und soziale Aspekte fließen dabei zusammen.

Solche hehren Ansprüche kollidieren mehr und mehr mit der von einer schweren ökonomischen und gesellschaftlichen Krise geprägten Realität im sozialistischen Kuba. Nachdem Corona die Wirtschaftslokomotive Tourismus völlig zum Stehen gebracht hatte, fährt sie nur mühsam wieder an und hat weiter mit Washingtoner Restriktionen zu kämpfen. Die wirtschaftlichen Schocks des Ukraine-Kriegs bekommt auch die Perle der Antillen zu spüren. Die im Vorjahr gezählten 2,4 Millionen internationalen Besucher sind immer noch zwei Millionen weniger als vor der Pandemie. Nicht nur für die Staatskasse, auch für viele kubanische Familien bedeutet das den Verlust von Einkünften. Für dieses Jahr werden 3,2 Millionen Ankünfte ausländischer Touristen erwartet.

Ein hohes Haushaltsdefizit zwingt den Staat zu Einsparungen in allen Bereichen, dringend benötigte Investitionen bleiben aus. Reformen stocken oder bringen nicht die gewünschten Ergebnisse, die Korruption und ein wenig effizientes Steuersystem bleiben ein Dauerproblem. Immer wieder kommt es zu Engpässen bei Treibstoffen und damit auch zu Stromabschaltungen. Andere Teile des Landes sind hiervon weit stärker betroffen als die Hauptstadt Havanna. Zuverlässig mit Sprit versorgt werden vor allem die Tankstellen, an denen mit Devisen bezahlt wird.

Der Zugang zu Dollar und Euro ist für Normalbürger wie Wirtschaftsakteure faktisch notwendig. Am stärksten leidet die Bevölkerung unter der enormen Geldentwertung des nationalen Peso seit der 2021 durchgeführten Währungsreform. Der offiziell festgelegte Wechselkurs ist lange überholt, auch wenn sich der informelle Währungskurs zuletzt etwas abkühlte. Beim Tausch auf der Straße entspricht ein Euro zurzeit 330 Peso, das sind über 100 Peso mehr als noch vor einem Jahr. Zugleich wird bei Kubas Banken das stark entwertete Papiergeld knapp, da Geschäfte damit meist große Mengen an Noten erfordern.

Die seit mehr als sechs Jahrzehnten andauernde und mehrfach verschärfte US-Blockade verhindert Investitionen ausländischen Kapitals und erschwert Kubas Teilnahme am Welthandel beträchtlich. Angesichts der vom Staat nicht zu deckenden Nachfrage nach vielen Produkten des täglichen Bedarfs springen der Schwarzmarkt und seit mehreren Jahren ganz legal private Importeure ein. Im Ausland lebende Kubaner bringen Firmen auf der Insel zum Laufen. Und so blühen mitten in der Misere neue Geschäfte auf; Restaurants bieten eine hier bislang unbekannte Vielfalt an Speisen, Lieferdienste und kleine Läden offerieren Lebensmittel, Süßigkeiten und Getränke aus aller Welt, die in Kuba bisher nicht zu haben waren.

Für nicht wenige Bürger bleiben sie das, während das schmale Sortiment staatlich subventionierter Produkte im Bezugsheft Libreta nicht zuverlässig verfügbar ist und zum Leben nicht reicht. Und so ist Kuba in der schwersten Krise seit der berüchtigten Sonderperiode nach der Implosion des sozialistischen Lagers in Osteuropa auch mit gewachsenen sozialen Klüften konfrontiert.

Oben ohne, Straße Egido: Unweit der restaurierten Teile der Altstadt ist an vielen Stellen der Verfall der Bausubstanz sichtbar.
Oben ohne, Straße Egido: Unweit der restaurierten Teile der Altstadt ist an vielen Stellen der Verfall der Bausubstanz sichtbar.

Wegen der prekären und perspektivlos scheinenden Lage sieht vor allem ein großer Teil der jüngeren und mittleren Generation Auswanderung in Länder wie die USA oder Spanien als Ausweg. Gut qualifizierte Menschen verlassen Kuba und fehlen in allen Bereichen, die Gesellschaft überaltert sichtbar. Ende des vergangenen Jahres hatte das Land nur noch etwas mehr als zehn Millionen Einwohner. In nur drei Jahren hat sich die Bevölkerungszahl aufgrund des Massenexodus um ein Zehntel verringert.

Doch es gibt auch diejenigen, die weiter an das Licht am Ende des Tunnels glauben und etwas dafür tun wollen. Das kulturelle Leben ist Teil solcher Selbstbehauptung und ein Tor zur Welt. Die am 15. November beginnende Biennale von Havanna trägt den dazu passenden Titel »Gemeinsame Horizonte«. Die 15. Ausgabe des Kunstfestes in vier Jahrzehnten läuft dann bis Ende Februar des kommenden Jahres.

Zu den Künstlern, die sich daran beteiligen, gehört die Heidenheimerin Andrea Neumayer. Zu ihren Mosaikbildern wurde die studierte Textildesignerin vor zwei Jahrzehnten bei einem Aufenthalt in Barcelona inspiriert. Für die Biennale wird Neumayer an einem großen Wandbild mitwirken, für das José Fuster das zentrale Motiv entworfen hat: Es zeigt die ikonischen Symbole Kubas, den stolzen Hahn und das majestätische Krokodil. Die künstlerische Zusammenarbeit geht auf einen Besuch bei Fuster in Jaimanitas zurück. Den Visionär kennenzulernen, sei für sie ein Lebenstraum gewesen, berichtet Neumayer »nd«.

Angebracht wird das Werk, das Geschichten, Erfahrungen und Stile über Grenzen hinweg verwebt, an einer sieben Meter breiten und fünf Meter hohen Mauer am Malécon im Zentrum Havannas. Mit im Boot sind auch die neuseeländische Mosaik-Künstlerin Rachel Silver und der auf das Recycling von Materialien für die Kunst spezialisierte Kubaner Damian Brito.

Zur deutschen Delegation auf dem großen Kulturfestival werden Kreative aus verschiedenen Genres gehören, die dort Kunstwerke präsentieren und sich mit Kollegen von überall her austauschen werden. Die Ausstellungen und Veranstaltungen werden musikalisch begleitet. Geplant sind Konzerte des mit der kubanischen Szene eng vernetzten Berliner Musikers Tobias Thiele. Ihre Premiere in Kuba hat im November die legendäre Rockband Keimzeit aus Brandenburg. Neben Auftritten unter dem freien Himmel von Havanna stehen weitere in Santa Clara während des Festivals »Ciudad Metal« auf dem Plan.

Auch der stolze Inhaber dieser kleinen Bar in der Calle Teniente Rey hofft auf mehr Touristen.
Auch der stolze Inhaber dieser kleinen Bar in der Calle Teniente Rey hofft auf mehr Touristen.

Ein besonderer Höhepunkt wird die szenische Lesung der spanischen Fassung der Geschichtenlieder »Der Traumzauberbaum« durch Monika Ehrhardt-Lakomy, die in Havanna auch ein gemeinnütziges Projekt für Kinder weiterentwickeln will. Fantasie kann viel bewirken.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.