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ARD-Podcast »Springerstiefel«: Was läuft schief im Osten?
Im Podcast »Springerstiefel« gehen Hendrik Bolz und Don Pablo Mulemba dem Rechtsruck im Osten auf den Grund
Aufgrund von gewaltsamen Übergriffen auf Ausländer schrieben »Die Ärzte« Anfang der 90er »Schrei nach Liebe«, 2015 veröffentlichten sie den Song als Zeichen gegen rechts erneut und schossen damit auf Platz eins der Deutschen Charts. Knapp zehn Jahre später ist Rechtsextremismus vor allem in den neuen Bundesländern ein großes Problem. Eine Wahlumfrage des »Politbarometers« des ZDF hat im August ergeben, dass die AfD 30 Prozent der Wählerstimmen in Sachsen und in Thüringen erreichen würde. Hendrik Bolz und Don Pablo Mulemba wollen diesem Problem nachgehen. Sie sind beide im Osten aufgewachsen, Bolz in Stralsund und Mulemba in Eberswalde. Wenn sich Parallelen zu den Erlebnissen der Interviewten auftun, bringen die beiden auch eigene Erfahrungen ein.
Als Testo rappte Bolz 2017 in dem Hip-Hop-Duo Zugezogen maskulin mit Moritz Wilken (Grim104) über »Alle gegen Alle«, in »Nullerjahre – Jugend in blühenden Landschaften« beschrieb er seine bewegte Jugend in Stralsund zwischen Plattenbau, Drogen und Kraftsport. Er verfiel selbst der Gewaltspirale, war lieber Täter als Opfer. »Ich hatte die ganze Zeit Angst«, gesteht er später im Podcast »Springerstiefel«. Bolz war kein Radikaler, aber er hätte es sein können. Denn damals war es cool, Neonazi zu sein. Bolz möchte verstehen, warum.
Das Wahljahr 2024 ist kein beliebiges. Schon lange nicht mehr war die Zukunft der Linken so ungewiss, noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik waren die politische Landschaft und die Wählerschaft so polarisiert, noch nie seit der NS-Zeit war eine rechtsextreme, in Teilen faschistische Partei so nah an der Macht. Wir schauen speziell auf Entwicklungen und Entscheidungen im Osten, die für ganz Deutschland von Bedeutung sind. Alle Texte unter dasnd.de/wahljahrost.
Er befragt den Ex-Neonazi Christian. Er will wissen, warum sich dieser in den 90ern der rechten Szene anschloss und wie aktiv er war. Weicht Christian aus, hakt Bolz nach. Seine Vergangenheit wischt Christian oft weg: »Wenn man sich heute trifft, grinst man dann drüber.« Das irritiert auch Bolz: »Da grinst man dann drüber. Schon wieder so eine Aussage, die ich einfach nicht verstehe.« Bolz stellt weiter Fragen, recherchiert Hintergründe. Als Christian Wahlhelfer war, stand Rechtsterrorist und Holocaust-Leugner Manfred Roeder an der Spitze, 1971 war Roeder Anwalt für Rudolf Heß. Wie Christian dazu stand? Er habe für die Partei gehandelt, »aber nicht für ihn«, weicht der Ex-Neonazi erneut aus. Seinen Ausstieg aus der Szene erwähnt er fast beiläufig.
Bolz informiert sich weiter. Laut der Organisation Exit-Deutschland ist ein Bruch mit der Vergangenheit erst dann erfolgt, wenn es gleichzeitig »eine kritische Reflexion, Aufarbeitung und ein erfolgreiches Infragestellen der bisherigen Ideologie gegeben hat«. Der Podcast-Autor sieht das große Ganze: Wenn es von Neonazis wie Christian keine öffentliche Aufarbeitung gebe, dann fehle »ein riesiger Teil der Arbeit«. Dann müssten Betroffene ihre Geschichten erzählen, »die traumatischen Erlebnisse immer und immer wieder durchleben, damit all das, was passiert ist, nicht in Vergessenheit gerät und letztlich auch, damit es nicht wieder passiert«. Am Ende jeder Folge gibt es eine Zusammenfassung und neue Fragen. Das stimmt nachdenklich.
Auch Don Pablo Mulemba sucht Antworten. Seine Mutter heiratete einen Vertragsarbeiter aus Angola. Er spricht mit seinen Eltern. Man erfährt, wie die beiden in Eberswalde eine gute Zeit hatten, aber auch angefeindet wurden. Mit dem Mauerfall brachen Arbeitsplätze weg, Vertragsarbeiter*innen sollten wieder gehen. Nach über 20 Jahren zog sein Vater dann doch 2008 nach Angola, drei Jahre später folgte ihm seine Mutter. Mittlerweile wohnen Vater, Mutter und Mulemba in Berlin.
Auch Mais Vater war ein Vertragsarbeiter, allerdings aus Vietnam. Gemeinsam mit Mai besucht der Reporter ihre ehemalige Heimat Sachsendorf (Cottbus). Mai blickt auf den Boden, damit man ihre Augenform nicht erkennt, Mulemba setzt die Kapuze auf, damit seine krausen Haare nicht erkannt werden. Sie haben sich beide Schutzmechanismen angewöhnt und sprechen darüber. Für Mulemba wird es zur Selbsterfahrung, wenn der Tunesier Ahmed von seinen Erfahrungen und seinem Engagement für Toleranz berichtet. Ahmed ist 2015 nach Chemnitz gezogen und im Gegensatz zu Mulemba im Osten geblieben.
Immer wieder überschneiden sich Biografien. Die von Christian und Silke, die nach dem Mauerfall Orientierung suchen, zum Beispiel. Sie wurden in der Jugend zwischen Massenarbeitslosigkeit und einem Neuanfang, auf den keiner vorbereitet war, allein gelassen. »Fascho oder Punk?«, so der Titel der ersten Staffel, schien fast Zufall zu sein. Denn beide suchten einen Ort der Zugehörigkeit. Silke schloss sich einer Gruppe von antifaschistischen Punks an.
Die zweite Staffel trägt den Titel »Die 90er wiederholen sich«. Die Jugend suchte sich im Corona-Lockdown eigene Orte, oft gab die rechte Szene Unterschlupf. »Springerstiefel« stellt Zusammenhänge her, die zeigen, was in unserer Gesellschaft schiefläuft: Nicht die Jugend ist das Problem, sondern die Selbstverständlichkeit, mit der Krisen und Missstände übergangen werden.
Beide Staffeln von »Springerstiefel« sind in der ARD-Audiothek und auf allen gängigen Podcast-Plattformen verfügbar.
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