Das Internet auf der Couch

Eine neue Reihe des Psychosozial-Verlags versucht sich an »Gegenwartsfragen«

  • Tom Uhlig
  • Lesedauer: 5 Min.
Lustig oder traurig, der stetige Hang zur Selbstdarstellung?
Lustig oder traurig, der stetige Hang zur Selbstdarstellung?

Psychoanalyse und psychoanalytische Sozialpsychologie sind derzeit nicht besonders gefragt, wenn es um die Diskussion bedeutender Gegenwartsfragen geht. Zumal sich in dem Feld auch gerne Scharlatane hervortun, die Aufmerksamkeit erheischen, indem sie prominenten Personen, vorrangig Politiker*innen, psychische Störungen aus der Ferne diagnostizieren.

Der Psychosozial-Verlag will dem relativen Bedeutungsverlust der Psychoanalyse mit einer neuen Buchreihe entgegentreten und »gesellschaftspolitische Debatten um wichtige psychosoziale Dimensionen« erweitern. Es springt einem dabei zuerst die Prägnanz der Bücher ins Gesicht. Anstelle der fachüblichen 300 Seiten plus hat man hier lediglich rund 140 im handlichen Format. Es können also keine erschöpfenden Monografien erwartet werden, eher debattentaugliche Einwürfe.

Jüngst erschienen in der Reihe die Bände »Swipe, like, love. Intimität und Beziehung im digitalen Zeitalter« von Johanna L. Degen sowie »Zwischen Eskalation und Selbstkontrolle. Zur Ent/Hemmung im Digitalen« von Jacob Johanssen. Auch wenn sie sich nicht direkt aufeinander beziehen, stehen die Bücher doch in Konversation miteinander. Degen liefert reiche empirische Befunde, schwächelt aber theoretisch, bei Johanssen verhält es sich umgekehrt. Für ein umfassendes Bild digitaler Affektökonomie ist wohl beides notwendig.

In »Swipe, like, love« beschreibt Degen entlang bündig zusammengefasster empirischer Einzelbefunde, wie sich Beziehungen im digitalen Raum verändern. Es geht beispielsweise um die Ambivalenz von Dating-Apps, die einerseits als spielerisch, eindeutig und relativ sicher, anderseits aber auch als unverbindlich und enttäuschend erlebt werden. Mit der suggerierten ständigen Verfügbarkeit von (Sexual-)Partner*innen würden die Apps hyperstimulieren und zugleich langweilen: Die »Praktik wird repetitiv und das Bedeutsame wird vom Unbedeutenden nicht mehr unterscheidbar.«

Oft heißt es, der digitale Raum lade zur Selbstentblößung ein, zur Entladung von Hass und Wut, sexuellen Vorlieben. Doch Selbstentblößung wird durch Beschämung reguliert.

Obschon Degen etliche Studien anführt, bleiben die Leser*innen von Zahlen und Prozentangaben ihrer Ergebnisse verschont. Es geht eher um eine Gesamtschau von Themen und Leitmotiven, wobei eines zentral für die Autorin ist: die parasoziale Beziehung. Das sind in der Regel zeitversetzte einseitige Beziehungen etwa zwischen Influencer*innen und Follower*innen. Über den Konsum von Content stellt sich eine Art von Pseudointimität her, in der die Follower*innen zwar nur selten die Wahrnehmungsschwelle des Gegenübers überschreiten, aber gleichzeitig auch Ansprüche stellen. »Alle wissen, dass die parasoziale Beziehung einseitig ist, aber das bedeutet nicht, dass sie einem nichts bedeutet und die Mechanismen einen nicht trotzdem ›erwischen‹.«

Diese und andere Formen digitaler Beziehungsgestaltung bleiben nach Degen nicht im digitalen Raum, sondern gehen in den Alltag ein. Entweder primär, weil man vielleicht zum Handy greift – und dadurch andere Interaktionen unterbricht –, oder sekundär »über andere und die sich etablierenden Gewohnheiten, Traditionen und Normen«. Die Beziehungsangebote würden also offline gesucht oder nachgeahmt, einschließlich der damit verbundenen Selbstdarstellungs- und Gratifikationsweisen.

Nach Degen passt das Instrumentelle digitaler Intimität bestens in die Gegenwart: »Über das Auslagern von Anteilen der Beziehungsfunktionen und Beziehungsweisen wird in neoliberaler Logik erlebt, gelernt und normalisiert, dass soziale Beziehungen einseitig, dass Subjekte und ihre Bedürfnisse Mittel zum ökonomischen Zweck anderer sein dürfen.« Die Autorin stellt also eine gewisse Verarmung sozialer Beziehungen fest. So spannend die Befunde sind, enthält sich Degen doch weitgehend ihrer Theoretisierung. Das macht es aber auch interessant, ihre Impulse aufzunehmen und weiterzudenken – ganz im Sinne der Buchreihe also.

Johanssen hingegen übt in »Zwischen Eskalation und Selbstkontrolle« keine Zurückhaltung mit theoretischen Einordnungen. Dem Autor gelingt es, das doch im Grunde recht basale Begriffspaar der Hemmung und Enthemmung erstaunlich produktiv zu machen. Das liegt meines Erachtens an einem Widerspruch, den Johanssen damit zu gängigen Erzählungen eines rein enthemmend wirkenden Internets einlegt.

Oft heißt es, der digitale Raum lade zur Selbstentblößung ein, zur Entladung von vorrangig negativen Affekten wie Hass und Wut, und zur sexuellen Entäußerung. Johanssen beschreibt diese Enthemmungsdynamiken, stellt ihnen jedoch zugleich die Hemmungen entgegen. Die Selbstentblößung wird durch Beschämung reguliert, Hate Speech von den widerwilligen Selbstreglementierungen der Plattformen und Sexualität von den einschränkenden Konventionen digitaler Pornografie. Die Lebensäußerungen können online eben nur Formen annehmen, die erlaubt sind und verstanden werden können.

Bei der theoretischen Einordnung der Ent-/Hemmungsdynamiken stützt sich Johanssen vor allem auf die Psychoanalyse nach Jacques Lacan. Das unterminiert ein Stück weit den Anspruch einer debattenwirksamen Intervention. Wer mit Sätzen wie »Trolling ist nichts anderes als die Abwehr symbolischer Kastration« nichts anfangen kann, wird hier auch nicht gerade an die Hand genommen. Eine gewisse Grundkenntnis oder zumindest Offenheit gegenüber Lacan’scher Theoriebildung ist vorausgesetzt. Dann aber ist die Argumentation einleuchtend.

Johanssen übernimmt die These Lacans eines Wandels, weg von der Triebunterdrückung autoritär strukturierter Gesellschaften hin zur Aufforderung der »Jouissance«, des Genießens. Das Begehren sucht nach immer anderen Möglichkeiten, dieser Aufforderung nachzukommen, und scheitert dennoch. Sowohl an der notwendigen Unerreichbarkeit absoluten Genießens als auch an den Versagungen, die kapitalistische Gesellschaften entgegen ihrer eigenen Ideologie dem Subjekt aufzwingen. Diese Widersprüchlichkeit durchzieht nach Johanssen auch die digitalen Plattformen.

Nach der Lektüre beider Bücher kommt man schwer umhin, das Begriffspaar der Ent-/Hemmung nicht auch auf die von Degen so kenntnisreich beschriebenen digitalen Beziehungsformen anzuwenden. Die Ambivalenz ständiger Zeige- und Schaulust und der relativen Einsamkeit parasozialer Beziehungen scheint vor dem theoretischen Rahmen einer gleichzeitig erlaubenden und restringierenden Plattformpolitik weiter Kontur anzunehmen. Es ist zu hoffen, dass in der Reihe »Gegenwartsfragen« des Psychosozial-Verlags noch viele weitere Bücher folgen, die psychoanalytische Perspektiven ins Gespräch bringen.

Johanna L. Degen: Swipe, like, love. Intimität und Beziehung im digitalen Zeitalter. 166 S., br., 19,90 €.
Jacob Johanssen: Zwischen Eskalation und Selbstkontrolle. Zur Ent/Hemmung im Digitalen. 169 S., br., 19,90 €. Psychosozial-Verlag.

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