Wegschauen ist keine Strategie

In Sachen Patientensicherheit bewegt sich in Deutschland zu wenig, bedauert auch der Medizinische Dienst

Alle verwendeten Instrumente sollten nach der Operation außerhalb des Patienten zu finden sein.
Alle verwendeten Instrumente sollten nach der Operation außerhalb des Patienten zu finden sein.

Vermutliche und tatsächliche Behandlungsfehler sowie die Schäden, die nachweisbar etwa durch Verwechslungen entstehen, nehmen nicht zu – aber es werden auch nicht weniger. Jedenfalls kann dies aus der am Donnerstag in Berlin vorgestellten Jahresstatistik zu Fehlern von medizinischem Personal geschlussfolgert werden.

Das ist alles andere als beruhigend. Denn unter den über 12 000 fachärztlichen Gutachten 2023 wurde in jedem vierten ein Behandlungsfehler festgestellt. In jedem fünften Fall war der Fehler auch ursächlich für den erlittenen Schaden. Vorgelegt wurde die Statistik für 2023 vom Medizinischen Dienst Bund (MD), der für die gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherungen tätig ist. Insgesamt wurde eine solche bundesweite Auflistung jetzt zum 13. Mal erstellt.

»Wir haben hier ein Arztideal, bei dem Fehler nicht vorkommen.«

Stefan Gronemeyer
Medizinischer Dienst Bund

Die jetzt genannten Zahlen entsprechen in etwa jenen der Vorjahre. Jedoch muss laut Stefan Gronemeyer, MD-Vorstandsvorsitzender mit einer erheblichen Dunkelziffer gerechnet werden. »Fachleute gehen davon aus, dass es in etwa einem Prozent aller stationären Behandlungen zu Fehlern und vermeidbaren Schäden kommt. Demnach sind jedes Jahr 168 000 Patientinnen und Patienten davon betroffen. Die Experten gehen von circa 17 000 fehlerbedingten, vermeidbaren Todesfällen aus.« Zum Vergleich: Bei 75 vom MD 2023 begutachteten Fällen 2023 führte ein Fehler zum Tod des Patienten, das entspricht 2,8 Prozent.

Die Erfassung von Verwechslungen und Fehlentscheidungen durch Mediziner oder Pflegekräfte und deren Begutachtung durch den MD ist ein relativ einfacher Vorgang: Bei Verdacht auf einen solchen Fehler können sich Versicherte zunächst an ihre Krankenkasse wenden. Diese beauftragt dann den MD mit einem Gutachten, das für den Patienten kostenfrei ist. Für das Gutachten müssen alle beteiligten Ärzte von der Schweigepflicht entbunden werden, der Gutachter erhält Zugang zu sämtlichen Unterlagen.

»Ein Gedächtnisprotokoll der Patienten ist immer hilfreich«, erläutert Christine Adolph, Stellvertretende Vorstandsvorsitzende und leitende Ärztin des Medizinischen Dienstes Bayern. Dabei geht es nicht nur um die Wahrnehmung zum Beispiel eines Eingriffs, sondern auch der Folgen – wann etwa unerwartete Schmerzen aufgetreten sind. Der Gutachter rekonstruiert dann das Geschehen und muss unter anderem klären, ob das Vorgehen dem Stand medizinischen Wissens entsprach und nötige Sorgfalt waltete. Nur wenn der erlittene Schaden durch den vorherigen Fehler verursacht wurde, bestehen Schadenersatzansprüche.

In der Jahresstatistik 2023 wurden 151 Fälle als sogenannte Never Events eingestuft, also Schadensereignisse, die eigentlich nie passieren dürften. Dazu gehören schwerwiegende Medikationsfehler, unbeabsichtigt zurückgebliebene Fremdkörper nach Operationen oder Verwechslungen von Patienten. Alle diese Ereignisse können zu schweren Schäden führen. Dazu zählt der Fall einer 39-Jährigen: Bei ihr sollte eine Zyste operiert werden, in Folge einer Verwechslung wurde sie aber sterilisiert.

Speziell bei den Never Events mahnt der MD Veränderungsbedarf an. International nicht neu, aber auch in Deutschland dringend nötig wäre ein verpflichtendes Meldesystem für eine begrenzte Zahl solcher Ereignisse. Auch laut einem Aktionsplan der Weltgesundheitsorganisation WHO sollen derartige Systeme bis 2030 weltweit eingeführt sein. In der deutschen Politik seien entsprechende Bestrebungen aktuell nicht wahrnehmbar, bedauert Gronemeyer. Dabei hätte ein Never-Event-Meldesystem gut zum Klinikatlas gepasst, der ja Transparenz in der Behandlungsqualität herstellen soll.

Auch die Erleichterung der Beweislast für Patienten, die es in der Regel kaum schaffen, vor Gericht den Zusammenhang von Fehler und erlittenem Schaden zu belegen, wäre eine weitere politische Baustelle. Dass hier nichts passiert, hat laut MD-Vorstand auch damit zu tun, dass in Sachen medizinischer Fehlerkultur in Deutschland noch kein Paradigmenwechsel erfolgt sei. »Wir haben hier eine Schwarzer-Peter-Kultur, basierend auf einer romantisch verklärten Haltung und einem Arztideal, bei dem Fehler nicht vorkommen«, so Gronemeyer. Nötig sei aber, auch in den Ärzteverbänden, ein Umdenken in Richtung Prozessanalyse: »Wegschauen ist keine Strategie.«

Andere Länder machten das besser: Wer systematisch auf Transparenz setze, finde natürlich mehr Fehler, könne diese aber eher beheben. Aus der Patientensicherheitsforschung sei unter anderem bekannt, dass ein großer Schwerpunkt bei der Entstehung von Fehlern die Kommunikation in Krankenhäusern sei. Dabei gehe es nicht um einzelne Ärzte, sondern um gut strukturierte Abläufe, etwa zwischen den Normalstationen, den Operationsteams und den Intensivstationen.

Laut Gronemeyer sei es eine völlige Fehleinschätzung, dass Patienten durch mehr Transparenz bei den Fehlern verunsichert würden. Diese würden eine gute Information sehr schätzen und unterstellten keine bösen Absichten bei den Behandlern.

Die Deutsche Stiftung für Patientenschutz hatte schon vorab die bestehende Fehlerkultur in der Medizin kritisiert. Auch sie forderte endlich einen Härtefallfonds, damit Betroffene entschädigt werden können. Im Koalitionsvertrag ist sowohl eine Stärkung der Patienten als auch die Schaffung eines Härtefallfonds vorgesehen. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte im April im Bundestag einen Gesetzentwurf zur Jahresmitte angekündigt. Passiert ist allerdings bislang nichts.

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