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Genuss kann man nicht verordnen
»Wofür wir kämpfen« lautet die kämpferische Ansage des Kunstfests Weimar 2024
Weimar hat zwar die größten Dichter der Deutschen als Maskottchen, eine renommierte Universität, eine Musikhochschule und ein Nationaltheater zu bieten, aber keinen ICE-Anschluss. Wer mit dem Zug anreist, steigt in Erfurt oder Jena um und tuckert weiter in die überschaubare 60 000-Einwohner-Stadt. Am Wochenende der Eröffnung des Kunstfests Weimar 2024 – in einer Woche sind Landtagswahlen in Thüringen! – sitzen mir im Regio japanische Touristen, eine russischsprachige Mutter mit Sohn, zwei junge Männer mit Handy und Köstritzer in den Händen gegenüber, und alle im Abteil schweigen Bildschirm oder Landschaft an.
Auf dem Weg zu Fuß ins Stadtzentrum passiere ich die Thälmann-Statue, wo rote Blumenkränze angebracht sind, komme an Standplakaten vorbei, die an Überlebende, an Zeuginnen und Zeugen des KZ Buchenwald erinnern, in dem unweit von Weimar zehntausende Zwangsarbeiter, vor allem Sowjet-Bürger, von den Nazis ermordet wurden. An den Laternen hängen Wahlplakate für Grinsebacken aller Parteien, wobei auffällig ist, dass, zumindest an der Straße Richtung Zentrum, die Grünen ihre Werbung weiter oben anbringen als die Werteunion.
Angekommen am Theaterplatz spenden die Statuen gewordenen Goethe und Schiller Schatten. Genau gegenüber befindet sich der Informationsstand des Kunstfests, das unter dem Motto »Wofür wir kämpfen« in die 35. Runde geht. Seit 2019 ist der Kurator und ehemalige Kulturjournalist Rolf C. Hemke aus Köln Intendant. Neben dem Stand durfte die Künstlerin Cosima Gopfert ihre Installation »Fake Info-Stelle« platzieren, wo elektronisch übermittelte, imaginäre Wahlumfragewerte angezeigt werden. Ramelow liegt ganz vorne, Höcke ganz hinten, Wagenknechts BSW spielt keine große Rolle … ein Wunschdenken. Fraglich, inwiefern das Mut macht oder kämpferisch ist.
Im Bauhaus-Museum wird am Nachmittag eine Ausstellung zur russischen Menschenrechtsorganisation Memorial eröffnet. Sie setzt sich seit der Perestroika-Zeit für die Aufarbeitung der Grauen des Gulag ein. Ihre Mitglieder wurden 2022 in Russland zu Staatsfeinden erklärt, führen aber weltweit ihre Arbeit fort. In der ersten Reihe sitzt Oleg Orlov, der vor wenigen Wochen im Zuge des Gefangenenaustauschs nach zwei Jahren aus der Haft freikam. Die Ausstellung soll zeigen, dass es ein anderes Russland gibt, das demokratisch sein und die Menschenrechte wahren will.
Dokumentiert wird die Arbeit von Memorial, das Bemühen, den Gulag-Gräueln gegen staatlich verordnetes Vergessen einen Platz im kollektiven Gedächtnis einzuräumen, die heftigen Repressionen, denen die Mitglieder ausgesetzt sind. Vitrinen in der Mitte des Raumes zeigen Objekte, die aus den Lagern geborgen wurden: gespannte Fäden zwischen Holzstöckchen zum Brotschneiden; Fäustlinge für gegen den Willen der Mütter abgetriebene Kinder; Briefe an Stalin, die unschuldigen Eltern nach Hause kommen zu lassen.
Was aus der Arbeit von Memorial für unsere Gegenwart von deutschen Politikern abgeleitet wird, ist aber eine andere Geschichte: Nach den Reden von Volkhard Knigge, dem langjährigen Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, und Irina Scherbakowa, die als Memorial-Mitarbeiterin im Exil in Deutschland lebt, Schirmherrin des Kunstfests ist und als »abtrünnige Germanistin« den Faust zitiert, ist Carsten Schneider dran. Dem Beauftragten für Ostdeutschland geht es ums Einschwören: Er philosophiert über einen »reaktionären« Kern Russlands und dessen imperialistische Kontinuitäten. Er wünscht sich indirekt, Moskau würde wie Nürnberg vom Ort der Verbrechensplanung (Rassengesetzgebung) zum Ort der Abrechnung (Prozesse gegen Nazi-Größen). Weil Putin-Russland böse ist, soll das Vertrauen in die guten deutschen Institutionen wachsen. Bei der offiziellen Festival-Eröffnung am Theaterplatz fordert Schneider dann am Abend: »Genießen Sie die Freiheit der Kunst.« Genuss kann man bekanntlich nicht verordnen.
Die Eröffnung ist im Vergleich zu den vergangenen Jahren, so kunstfesterprobte Einheimische, »schlecht besucht«. Thüringens Kulturminister Benjamin-Emmanuel Hoff zitiert in seiner Rede unentwegt, weil Kultur sein Beruf ist, und fordert, »die Feinde der Demokratie in Grund und Boden zu lachen«. Auch das geht schwerlich auf Kommando. Und moralische Überlegenheit schützt nicht vor faschistischer Gewalt. Dass die Aufgabe der Kunst darin besteht, die Gesellschaft in Gänze kritisch zu reflektieren, scheint ein abwegiger Gedanke zu werden. Stattdessen soll die Kunst im Auftrag ihrer Regierenden diese Demokratie gegen rechts verteidigen, damit aber auch implizit den Status quo.
Auf klare Ansagen folgt wortloser Tanz, zu dem man sich schwer gedanklich verhalten kann. In weißen Gewändern bewegen sich Tänzer*innen des Forward Dance Theater über den Platz, zwei davon im Rollstuhl respektive auf Krücken. Ein großgewachsener Weimarer im Anzug, der gerne den Kopf schüttelt, bemängelt die Musik, eine in jedem Fall etwas uninspirierte »dekonstruierte Carmina Burana« und empfiehlt das Cloud Gate Dance Theater aus Taiwan – »Weltklasse«. Dann zieht er, selbstgerecht, aber mit Meinung, von dannen.
In der Redoute des Theaters am Rande der Stadt fand zu später Stunde die Premiere von »S – Schädel« statt: Texte des deutsch-iranischen Schriftstellers Navid Kermani werden »szenisch reflektiert« von Schauspielerin Eva Mattes und Roberto Cuilli, dem langjährigen Leiter des Theaters an der Ruhr. Sie sitzen auf dem Tisch, auf zu kleinen Stühlen, setzen sich Eimer auf den Kopf. Sie erzählen mythische Parabeln über die Entstehung der Zeit aus dem Mittragen der Toten, führen absurde Loop-Dialoge über Kobolde im Seufzen. Dieses absurde Theater wechselt sich ab mit Berichten aus der Kolonialgeschichte Deutschlands, der Erzählung einer verschwiegenen Vergewaltigung, von Kriegsgräueln. Niemand kann Ciulli und Mattes ihre Bühnenpräsenz absprechen, aber der szenischen Textcollage fehlt der Zusammenhang, eine Dramaturgie, damit es dringlich wird. So bleibt nichts außer kurzen Schrecken und tiefsinniger Orientierungslosigkeit, eine Melange aus Drastik und Metaphysik, die keine gesellschaftlichen Gegebenheiten infrage stellt.
Am Abend darauf ging es am Herderplatz deutlich lustiger zu: Das Rumpel Pumpel Theater machte Halt in Weimar und bot mit »Das verfluchte Hotel« eine Stunde gute Unterhaltung mit einer Krimi-Geschichte, Wortwitz, Vampir-Kampf, Gesang, Pole Dance und ein bisschen Publikumseinbindung in der ersten Reihe. Eine starke Stunde Ulk. Eine große Menge Publikum kam, blieb zum Großteil und lachte kräftig.
Das war also der Anfang. Groß angekündigt für die kommende Woche ist das Musiktheater-Melodram »Ein Überlebender aus Warschau«: Arnold Schönberg hat es vor über 75 Jahren komponiert, jetzt wurde der jüdische Berliner Autor Max Czollek, der seit seinen Sachbüchern »Desintegriert euch« und »Versöhnungstheater« eine linke Berühmtheit ist, beauftragt, ein Libretto zu schreiben. Schorsch Kamerun, Sänger der Punk-Band »Die Goldenen Zitronen«, wird an mehreren Abenden mit Expert*innen den Stand der Dinge anhand umstrittener Begrifflichkeiten experimentell und performativ diskutieren. Und last not least wird sich die mittlerweile weltberühmte Schauspielerin Sandra Hüller an einer konzertanten Wahlerinnerung unter dem Titel »Come aus you are« – man könnte hinzufügen: »aber bleib Regierter, braver Demokrat« – am 31. August beteiligen.
Zurück zum schon Erlebten: Ein Weimarer Freund erzählt mir noch nachts vor einem ehemals besetzten Haus, wie in den Baseballschlägerjahren Nazis eine brutale Szene des Films »American History X« in der Stadt mit Punk-Köpfen auf Bordsteinpflastern nachspielten. Auch im neuen Jahrtausend hatten Antifaschist*innen alle Hände voll zu tun, damit Schläger-Glatzen nicht das Stadtbild bestimmen. »Wofür wir kämpfen« war da klar. Sie mussten dazu nicht von Karrieristen aufgerufen werden, die in der Regel berufsopportunistisch sind.
Zu sagen, dass die Friedensforderung der AfD »hohl« (Volkhard Knigge) ist, schadet nicht. Zu zeigen, wie der russische Staatsapparat Oppositionelle mundtot machen will, ist richtig. Wenn das Kunstfest einen charakterschwachen bio-deutschen Buben davon abhält, sich Björn Höcke zum Vorbild zu nehmen, wäre das schön — wahrscheinlich ist es aber nicht. Die Frage »Wofür wir kämpfen« beantworten die Weimarer*innen am besten für sich selbst. Leibhaftige Begegnungen fallen durch das Kunstfest auf jeden Fall leicht, und auch wenn einem die Kunst nicht zusagt, hat man was zu reden und gemeinsam zu überlegen.
Auch wenn einem die Kunst nicht zusagt, hat man was zu reden und gemeinsam zu überlegen.
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