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Molche und schillernde Figuren

Briefe aus Liechtenstein (2): Die herbe Poesie der Geheimnisse

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 4 Min.
Was soll man tun, wenn man in Liechtenstein von einem am Straßenrand abgestellten Auto angesprochen wird?
Was soll man tun, wenn man in Liechtenstein von einem am Straßenrand abgestellten Auto angesprochen wird?

Manche Dinge verstehe ich nicht, jedenfalls nicht ohne Hilfestellung. Da ist etwa Karel Čapeks berühmter Roman von 1936, der dem Genre Doku-Fiktion zugeordnet wird: »Der Krieg mit den Molchen«. Ohne die Illustrationen von Hans Ticha wüsste ich noch weniger als zuvor, wer die Molche überhaupt sind. Fiktive Nachfahren des Riesensalamanders, die erst zu willfährigen Arbeitssklaven gemacht und dann – wie Frankensteins Monster – zur Geißel der Menschheit wurden? Bei Ticha sind es bizarre Kampfmaschinen, wie sie sich eine nicht ausgereifte Künstliche Intelligenz ausgedacht haben könnte. Dann findet in Vaduz in Liechtenstein eine Abwehrkonferenz statt, die aber keine befriedenden Ergebnisse bringt. Das kann man als Parabel auf eine Welt am Abgrund lesen.

Warum ich jetzt hier auf meinem Abendspaziergang durch Balzers an der Schweizer Grenze, wo man von teuren Schweizer Handyanbietern umstellt ist, die versuchen, das preiswerte liechtensteinische Netz möglichst unbemerkt zu verdrängen, daran denke? Weil mich ein am Straßenrand abgestelltes Auto anspricht und dabei die Scheinwerfer zum Rhythmus der Sprache melodisch auf- und abblendet. Das ist apokalyptische Doku-Fiktion pur wie bei Čapek, bloß dass der Molch hier ein aufgemotztes Auto ist, das mit John-Wayne-Stimme zu mir spricht. Ich gehe schneller, man kann es fast schon laufen nennen. Was es gesagt hat? Also ein sprechendes Auto ist ja schon ziemlich irrsinnig, aber wenn ich jetzt noch stehen bliebe, um ihm zuzuhören, wie sollte man das nennen?

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Ja, auch das ist Liechtenstein. Man tut einiges gegen die Langeweile. Es gibt auch eine Böhse-Onkelz-Revival-Band hier, die ich mir im Internet angehört habe und die für meine ungeübten Ohren wie das Original klingt. Wie ein sprechendes Auto am Straßenrand, das Kampfschreie ausstößt, wie man sie auch in deutschen Kleinstädten hört. Wie klein Leichtenstein ist, wird mir bewusst, als ich im Leitmedium »Das Vaterland« lese, was die häufigsten Kindernamen 2023 hierzulande waren: neun Mal Sophia und fünf Mal Julian. Übersichtliche Verhältnisse! Kaum glaubt man daran, dass hier auch immer die große Politik im Spiel ist. Etwa 2008, da kam es zu ernsthaften Verstimmungen zwischen Deutschland und Liechtenstein auf oberster staatlicher Ebene. Fürst Hans-Adam II. hatte Deutschland (das gegenwärtige!) erbost das »Vierte Reich« genannt, was für Berlin die Grenze des Hinnehmbaren überschritt. Anlass waren deutsche regierungsamtliche Versuche gewesen, zwecks eigener Steuererhebung das liechtensteinische Bankgeheimnis zu lösen.

So etwas mag man hier gar nicht. Ich wiederum mag es nicht, mindestens einmal in der Woche frühmorgens von Maschinenpistolenfeuer geweckt zu werden. Der Krieg mit den Molchen? Nein, das ist die unermüdliche Schweizer Armee, die in Liechtenstein ein Übungsgelände angemietet hat. Zwei Stunden knallt und ballert es, dann hört man wieder nur das Läuten der Glocken der Kühe oben auf der Alm. Mehrfach schon, so heißt es, seien bewaffnete Soldaten der Schweizer Armee in Liechtenstein eingedrungen, was in Vaduz für Irritationen sorgte. Aber die Schweizer hatten sich bloß im Eifer des Manöver-Gefechts im unübersichtlichen Grenzland verlaufen.

Verlaufen haben sich auch eine ganze Reihe schillernder Figuren nach Liechtenstein. Der wohl Berühmteste war der Baron Eduard von Falz-Fein, geboren 1912 in Cherson, gestorben – mit 106 Jahren! – in seiner Villa »Askania Nova« in Vaduz, leider nicht friedlich, sondern bei einem Hausbrand. »Askania Nova« hieß seine Villa nach dem riesigen Naturschutzgebiet mit exotischen Tieren und einer halben Million Schafen, das seiner Familie im ukrainisch-russischen Grenzgebiet gehörte – genau dort, wo zurzeit die Frontlinie im Krieg zwischen Russland und der Ukraine verläuft. Das erste Mal wurde das Gebiet nach der Oktoberrevolution verwüstet, das zweite Mal, als Hitlers Truppen die Sowjetunion angriffen. Da war die Familie Falz-Fein jedoch längst in ihre Sommerresidenz nach Nizza geflohen. 1936 saß Falz-Fein als Sportreporter einige Reihen hinter Hitler, erlebte, wie dieser konsterniert auf den Sieg des überragenden Jesse Owens im 100-Meter-Lauf reagierte. War wohl nichts mit der Überlegenheit der arischen Rasse!

Baron Falz-Fein war ein Überlebenskünstler von der Art, wie man sie hier liebt. Einer, der die Operette seines Lebens zelebriert. Denn aus dem verarmten Adligen wurde neuerlich ein reicher Mann in Vaduz – durch seinen Souveniershop, in dem er Ansichtskarten an Tagesausflügler verkaufte. Sein letztes Lebensziel war, das Bernsteinzimmer zu finden. Dafür setzte er eine große Belohnung aus.

Doch dessen Verbleib bleibt ebenso ein Geheimnis wie die Kundendaten der liechtensteinischen Banken oder die nähere Bestimmung der Molche bei Čapek. Sage also keiner, der modernen Welt seien die Geheimnisse abhanden gekommen. Ich finde das gut, denn ohne Geheimnisse gäbe es schließlich auch keine Poesie.

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