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Die unterschätzte Überfischung
Der Bestand vieler Fischarten wird systematisch zu hoch angesetzt – und dies ist Grundlage für die erlaubten Fangmengen
Für hunderte Millionen Menschen ist der Fischfang in den Meeren eine unverzichtbare Nahrungsquelle oder Grundlage des Lebensunterhalts. Um dies auf Dauer sicherzustellen, braucht es eine nachhaltige Fischerei. Laut der UN-Ernährungsorganisation FAO sind allerdings 37,7 Prozent der Bestände überfischt: Es werden mehr Fische gefangen, als durch natürliche Vermehrung nachwachsen kann. Die Branche selbst spricht immer wieder davon, dass diese Tendenz dank der Fangquoten rückläufig sei.
An dieser Darstellung melden australische Wissenschaftler in einer im Fachblatt »Science« veröffentlichen Studie Zweifel an. Das Team unter Leitung von Graham J. Edgar von der University of Tasmania hat die Schätzungen der Bestandsbiomasse und -trends, auf deren Basis die Fangquoten festgelegt werden, unter die Lupe genommen. Ergebnis: Gerade bei überfischten Beständen werden die Mengen in vielen Fällen überschätzt und eine »Phantom-Erholung« angenommen, obwohl der Bestand weiter schrumpft. »Unter Berücksichtigung der im Nachhinein festgestellten Verzerrungen sind wahrscheinlich 85 Prozent mehr Bestände als derzeit anerkannt unter 10 Prozent der maximalen historischen Biomasse zusammengebrochen«, schreiben die Forscher.
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Die Autoren der Studie verglichen die gemeldeten Bestandsgrößen mit Schätzungen aus aktualisierten »Hindcast«-Modellen mit knapp 1000 Bestandserfassungen für dasselbe Jahr, die als derzeit beste Datenbasis gelten. Demnach werden die Bestandsgrößen häufig zu hoch angesetzt, wodurch der Grad der Dezimierung unterschätzt wurde. Diese Verzerrung war in der Nähe der sogenannten kritischen Erschöpfungsschwellen am stärksten ausgeprägt – dann ist der Druck, weniger zu fischen, am stärksten. »Die Ergebnisse unterstreichen, wie systematische Verzerrungen zu Bewirtschaftungsempfehlungen führen können, die nicht konservativ genug sind, um produktive Fischpopulationen zu erhalten«, schreiben die Meeresbiologen Rainer Froese und Daniel Pauly in einer Bewertung.
Dies führt Froese, der am Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel arbeitet, auch darauf zurück, dass dies den kurzfristigen Wünschen der Beteiligten und der Manager entspreche. »Das Problem sind hier die entwickelten Länder mit Instituten für Fischereiwissenschaft. Diese haben die Politik jahrelang und immer wieder falsch beraten und tragen damit einen Teil der Verantwortung für die zahlreichen überfischten und zusammengebrochenen Bestände, auch in Europa.«
Dass die Populationen vieler Arten gerade bei überfischten Beständen in einem weitaus schlechteren Zustand als angegeben sind, führt auch Boris Worm auf wirtschaftliche Interessen zurück: »Bei nachhaltig befischten Beständen finden diese systematischen Überschätzungen nicht statt – wahrscheinlich, weil die Fischerei gut läuft und es keinen Anlass gibt, die Ergebnisse zu beschönigen«, so der Professor für Meeresbiologie von der Dalhousie-Universität in Kanada. Überfischung sei besonders im Mittelmeer, wo Konflikte zwischen Anrainerstaaten ein gutes Fischerei-Management verhinderten, sowie in Westafrika und in Südasien ein Problem. Gerade in Regionen, in denen die Fischerei für die primäre Nahrungsversorgung wichtig und in denen die Bevölkerungsdichte nicht zu hoch sei, würden hingegen oft einfache, aber wirksame Maßnahmen zum Schutz der Bestände ergriffen. Worm sieht die Studie insbesondere als Mahnung: »Etliche Bestände, die noch als gut bewirtschaftet gelten – zum Beispiel auch in Europa –, könnten in Wirklichkeit schlechter dastehen als gedacht.«
Eine Mahnung findet sich auch im Resümee der Studie: »Betrachtet man nur den wirtschaftlichen Wert, so hat die Unfähigkeit, den Rückgang der Fischbestände umzukehren, letztlich weitreichende negative Auswirkungen auf die Beschäftigten in der Fischerei, die Ökosysteme und ihre Stabilität sowie die Fähigkeit der Welt, eine wachsende Bevölkerung mit Proteinen zu versorgen.«
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