Ein heimtückischer Überfall

Vor 85 Jahren entfesselte Deutschland den Zweiten Weltkrieg

  • Stefan Bollinger
  • Lesedauer: 5 Min.
Am 1. September 1939 überfiel Deutschland Polen.
Am 1. September 1939 überfiel Deutschland Polen.

Von morgens an überall außergewöhnlicher Betrieb. Im Radio wurde die Nachricht über den Beginn der Kriegshandlungen gesendet, die Bombardierung von Gdingen und Krakau durch die Deutschen traf mich wie ein Blitz. Ich war vor allem durch die Nachricht über die Bombardierung von Krakau niedergeschlagen ... Alle reden hier nur über den Krieg, aber die Stimmung ist gut, nirgends Zweifel, jeder glaubt an unseren endgültigen Sieg. Das – vage und ungeprüfte – Gerücht über die Einnahme Danzigs durch die polnische Armee erfreut die Menschen«, erinnert sich ein polnischer Zeitzeuge an den 1. September 1939.

In Berlin trat derweil Hitler in feldgrauer Uniform und unter begeisterten Heil-Rufen vor den Reichstag und erklärte den Überfall auf Polen zu einer großen Herausforderung für das deutsche Volk. Er versprach, wieder unter lebhaftem Beifall, dass er »nicht den Kampf gegen Frauen und Kinder führen« werde.
Dann schwadronierte er über angeblich friedliche Verhandlungsabsichten Deutschlands, geordnete Verhältnisse für Danzig und die dortige »misshandelte« deutsche Minderheit zu erreichen. Danach offenbarte er, das Wort Krieg vermeidend: »Ich habe meiner Luftwaffe den Auftrag gegeben, sich bei den Angriffen auf militärische Objekte zu beschränken. Wenn aber der Gegner glaubt, daraus
einen Freibrief ablesen zu können, seinerseits mit umgekehrten Methoden zu kämpfen, dann wird er eine Antwort erhalten, dass ihm Hören und Sehen vergeht!« Anhaltender stürmischer Beifall. Sodann folgte der vielfach zitierte, tödliche wie lügnerische Satz: »Polen hat nun heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch durch reguläre Soldaten geschossen.« Das Protokoll vermerkt Pfuirufe. »Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen!«

Demagogie und glatte Lügen durchzogen diese Rede wie schon die gesamte Vorkriegspropaganda. Die zur Rechtfertigung des deutschen Angriffs herangezogenen Grenzzwischenfälle und Terrorakte gegenüber der deutschen Minderheit in Polen hatten so nie stattgefunden.

Am 31. August 1939 hatte Hitler mit seiner Unterschrift unter die Geheime Kommandosache Weisung Nr. 1 den Befehl zum Überfall auf Polen gegeben. Am selben Tag überfielen Einsatzkräfte des Sicherheitsdienstes der SS in polnischen Uniformen den »Reichssender Gleiwitz« und verlasen einen fiktiven Aufstandsaufruf. Die Aktion war dilettantisch ausgeführt, erfüllte ihren Zweck aber in der deutschen Bevölkerung, obgleich die Absicht allzu offensichtlich war. Der Sender Warschau vermeldete am 31. August: »Keine Worte könnten jetzt mehr die Aggressionspläne der neuen Hunnen verschleiern. Deutschland strebt die Herrschaft über Europa an und durchstreicht mit einem bisher nicht da gewesenen Zynismus die Rechte der Völker.«

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In den frühen Morgenstunden des 1. September, um 4.45 Uhr, eröffnete das alte Linienschiff »Schleswig-Holstein«, das nur noch als Schulschiff diente, das Feuer auf die vor den Toren der umstrittenen Freien Stadt Danzig liegenden polnischen Halbinsel Hel, die polnische Garnison auf der Westerplatte. Die westpolnische Stadt Wieluń war bereits 4.37 Uhr von Stukas angegriffen und ein Krankenhaus dem Erdboden gleichgemacht worden; 1200 Einwohner starben. Ohne Kriegserklärung begann ein neuer, der Zweite Weltkrieg, der sechs Jahre dauern sollte, bis er fast genau auf den Tag am 2. September 1945 an Bord des Schlachtschiffes »USS Missouri« in der Sagami-Bucht vor Tokio mit der bedingungslosen Kapitulation der letzten Achsenmacht, des Kaiserreichs Japan, zu Ende ging. Bis zu 65 Millionen Tote, unermessliche Zerstörungen, Millionen Verwundete, Entwurzelte, Flüchtlinge und eine neue Weltordnung waren die Folge.

Polen war der erste Schauplatz dieses bisher blutigsten aller Kriege. Sechs Millionen Polen, darunter drei Millionen polnische Juden, wurden Opfer des deutschen Rassenwahns. Insgesamt starben 27 Millionen Soldaten in den unterschiedlichsten Uniformen weltweit und 19 Millionen Zivilisten. Die Sowjetunion zahlte mit ca. 27 Millionen Toten den höchsten Blutzoll, gefolgt von China mit zehn Millionen sowie Japan und Jugoslawien mit jeweils 1,7 Millionen. Die Weltherrschaftsambitionen der Nazis und des deutschen Kapitals bezahlten 4,8 Millionen Deutsche mit ihrem Leben.

Polen war der erste Schauplatz dieses bisher blutigsten aller Kriege.

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Bereits in den ersten Tagen der Aggression Hitlerdeutschlands sollte sich zeigen, dass Polens militärische Vorbereitungen auf den von wachsamen Zeitgenossen schon lange befürchteten neuen großen Krieg unzureichend waren. Und es bestätigte sich, wie im Jahr zuvor mit dem Münchener Abkommen, dass die Verbündeten im Westen Polen im Stich lassen würden. Die britische und französische Diplomatie hatte diesen Krieg nicht nur nicht zu vermeiden vermocht, sondern geradezu gefördert. Auf sich allein gestellt, stand Polen auf de facto verlorenem Posten und war nach drei Wochen von einer technisch und personell weit überlegenen Wehrmacht besiegt.

Ähnlich dem eingangs zitierten Zeitzeugen erinnerte sich auch Wojciech Jaruzelski an eine anfänglich naive, euphorische Stimmung in der Bevölkerung. Der spätere polnische Präsident hatte als 16-Jähriger den Überfall erlebt und fatale Beschwichtigungen seitens der polnischen Regierung damals noch gut im Gedächtnis: »Die Panzer der Deutschen sind aus Pappe, oder sie bleiben im Schlamm und dem Sand der polnischen Ebenen stecken. Unsere Kavallerie fegt sie schneller hinweg, als es dauert, diesen Satz zu sagen ... Und außerdem haben wir mächtige Verbündete im Westen.«

Weiter notierte Jaruzelski in seinen Memoiren »Mein Leben für Polen«: »Heute erscheint das unerhört, und wenn ich daran denke, schäme ich mich. Doch damals wünschten wir uns diesen Krieg herbei. Wir könnten endlich zeigen, wozu wir fähig sind, wir würden Helden sein, wir gingen überallhin, wo wir gebraucht würden, um zu kämpfen, und wir würden diesen Deutschen zeigen, mit wem sie es zu tun hatten. Verpassen wir den Deutschen eine Tracht Prügel, marschieren wir nach Berlin und damit Schluss! ... Die Wahrheit sollte uns auf grausame Weise aus diesen Träumen reißen. Doch das kam später.«

Von unserem Autor erschien 2022 im Papyrossa-Verlag »1939. Wie der Krieg gemacht wurde ... und Deutschland die Welt in den Abgrund stürzen durfte« (247 S., 16,90 €). Dr. Stefan Bollinger ist Mitglied der Historischen Kommission der Linkspartei.

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