Zeit der Schaumbäder

Endlich ist der unerträgliche Sommer vorbei. Es kommt die Supertopcheckerjahreszeit auf uns zu: der Herbst

Endlich Schluss mit diesem enervierenden Dauersonnenschein.
Endlich Schluss mit diesem enervierenden Dauersonnenschein.

Machen wir uns nichts vor. Sehen wir der Realität ins Auge: Der Sommer ist zu Ende. Schluss mit Eiscreme, Freibad, bauchfreien Tops. Schluss mit dem eisgekühlten Weißbier oder dem Aperol Spritz nach Feierabend, als man auf dem heimischen Balkon oder im Park entspannt die letzten wärmenden Sonnenstrahlen des Abends genoss. Schluss mit hitzefrei, FKK und Dolce Vita. Dem einen oder anderen Ignoranten wird das möglicherweise als Verlust erscheinen.

Derweil kündigt sich der Winter an – wenn auch derzeit noch zurückhaltend und leise – und schickt dieser Tage schon mal vorsichtig tastend seine Vorhut ins Land: den Herbst. Manch unverbesserlicher Nörgler und Tunichtgut wird sich nun beklagen und allerlei bemängeln: den zu erwartenden Dauerregen, die Kälte, die Stürme, die früh am Tag einsetzende Dunkelheit, die Miesepetergesichter der übellaunigen Mitmenschen.

Die gute Kolumne

Thomas Blum ist grundsätzlich nicht einverstanden mit der herrschenden sogenannten Realität. Vorerst wird er sie nicht ändern können, aber er kann sie zurechtweisen, sie ermahnen oder ihr, wenn es nötig wird, auch mal eins überziehen. Damit das Schlechte den Rückzug antritt. Wir sind mit seinem Kampf gegen die Realität solidarisch. Daher erscheint fortan montags an dieser Stelle »Die gute Kolumne«. Nur die beste Qualität für die besten Leser*innen! Die gesammelten Texte sind zu finden unter: dasnd.de/diegute

Doch Kopf hoch! Ich bin mir nicht sicher, ob in einer besseren Zukunft nicht irgendwann tatsächlich der Herbst, der heimliche Supertopchecker unter den Jahreszeiten, die Anerkennung erhält, die er schon lange verdient hätte. Denn er hat enorme Vorzüge, die es noch zu entdecken gilt. Beispielsweise schafft er die Unannehmlichkeiten und Qualen des Sommers ebenso rasch wie zuverlässig beiseite. Er räumt, allerspätestens im Oktober, Nervtötendes ab, betätigt sich als fleißiger und gründlicher Cleaner, macht sozusagen klar Schiff beziehungsweise mit allerlei Ungustiösem kurzen Prozess: Die Stechmücke hat dann vorerst ausgespielt und auch der Sonnenbrand kommt so schnell nicht wieder. Von heute auf morgen bleiben wir verschont vom Blick auf all die ungewaschenen und vom Nagelpilz zerfressenen Käsemauken, die keck aus Männersandalen ragen und im Sommer traditionell schamfrei hergezeigt werden. Und man muss auch nicht mehr bei tropischen Temperaturen in algenverseuchten, urinwarmen Gewässern baden, die einen strengen Geruch verströmen und auf denen sich über Tage und Wochen hinweg erfolgreich ein obenauf schwimmender, aus Fisch- und Vogelfäkalien, Sonnencremerückständen und Schweiß zusammensetzender, zäher Film gebildet hat.

Der Herbst, unser aller Freund, sorgt dafür, dass die ärgsten Unansehnlichkeiten unter langen Beinkleidern versteckt und in dicke Socken verpackt werden. Die Stürme, die Kälte und der Dauerregen stellen sicher, dass wir zu Hause bleiben und uns, nach einem deprimierenden Sommer, der hauptsächlich als Vorbote der kommenden Apokalypse fungierte (Terror, Kriege, Klimakatastrophe, überall Neonazis), ausgestreckt auf dem heimischen Sofa endlich erbaulicher Lektüre widmen können, etwa Sylvia Plath' Roman »Die Glasglocke«, Jerzy Kosinskis »Der bemalte Vogel«, Gisela Elsners »Die Riesenzwerge« oder Thomas Hardys »Jude Fawley, der Unbekannte« (falls Sie eher das opulente Erzählen der Literatur des späten 19. Jahrhunderts schätzen).

Wir können befreit aufatmen, weil die elende geheuchelte Dauerfreundlichkeitsmiene der meisten Menschen verschwindet.

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Unser Blick aus dem Fenster fällt (wenigstens bis es erfreulicherweise gegen 15.30 Uhr draußen dunkel wird) derweil auf farbenfroh leuchtendes Laub, rotwangige reifende Früchte, pralle purpurfarbene Weintrauben und dekorativ vor sich hin sterbendes Heidekraut. Albert Camus erkannte nicht ohne Grund im Herbst einen »zweiten Frühling, wo jedes Blatt zur Blüte wird«, und Johann Wolfgang von Goethe verstieg sich in einem Brief an Friedrich Schiller gar zu der Feststellung: »Der Herbst ist immer unsere beste Zeit.«

Der Grauschleier, der sich spätestens im Oktober über alles legt, verdeckt dann schließlich gnädig all den alltäglichen Schrecken, an den man sich hierzulande längst gewöhnt hat und der in der Sommerzeit noch offen zutage lag (Obdachlosigkeit, Open-Air-Konzerte, Olaf Scholz). Selbst die schon nachmittags heraufziehende Dunkelheit hat im Grunde genommen gewaltige Vorteile: Man muss die hässliche Welt nicht mehr sehen, die nach und nach von einer alles umhüllenden Schwärze verschluckt wird. Jetzt ist die Zeit für romantisches Kerzenlicht, heiße Schaumbäder und das Verfassen melancholischer Gedichte da!

Selbst die Betrachtung der Miesepetergesichter, die wir im uns umgebenden beständigen Halbdunkel erkennen, tut uns gut: Wir können befreit aufatmen, weil die elende geheuchelte Dauerfreundlichkeitsmiene der meisten Menschen verschwindet und sie endlich einmal ihr wahres Gesicht zeigen. Von dem verlogenen Grinsen der Menschen und ihrem stählernen Fröhlichkeitsfaschismus, den die Medien- und Reklamewelt ihnen über Jahrzehnte hinweg antrainiert hat, bleiben wir nun eine kleine Weile verschont. Zumindest so lange, bis im November der alljährliche Lebkuchen-, Lametta- und Weihnachtsterror anrückt. Sicher ist jedenfalls: Auf den Januar können wir uns dann wieder vorbehaltlos freuen.

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