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Schwangere und Kinder unterversorgt
Bei Migräne und Kopfschmerzen fehlen für Heranwachsende spezielle Therapieangebote
Kopfschmerzen und Migräne reißen Menschen oft unvermittelt aus ihrem Alltag. Anlässlich des Kopfschmerztages in dieser Woche thematisierte die zuständige medizinische Fachgesellschaft die Versorgung von Schwangeren und Stillenden sowie die von Kindern und Jugendlichen.
Frauen, die heutzutage schwanger werden, sind zu spät geboren, um sich noch persönlich an den Contergan-Skandal zu erinnern. Anfang der 60er Jahre war das Beruhigungsmittel mit dem Wirkstoff Thalidomid ein gängiges, als sicher geltendes Medikament. Dann wurde bekannt, dass der Wirkstoff das Wachstum der Föten im Mutterleib stark schädigen konnte. Etwa 2400 Betroffene leben noch heutzutage allein in Deutschland. Der Skandal hatte nicht nur umfangreiche Auswirkungen auf das Arzneimittelrecht. Geblieben ist auch das Gebot, in der Schwangerschaft mit Medikamenten besonders vorsichtig zu sein.
Nicht alle Medikamente zur Migränebehandlung sind Schwangeren so klar zu empfehlen wie Paracetamol.
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Was bedeutet das nun aber für Frauen, die vielleicht schon vor einer Schwangerschaft an starken Kopfschmerzen litten? Migräne tritt bei Frauen nicht nur dreimal so häufig wie bei Männern auf, sondern ist am häufigsten gerade unter den jungen gebärfähigen Frauen zwischen 18 und 29 Jahren. Ein Viertel dieser Gruppe ist von den Attacken betroffen. Zwar berichteten Frauen oft, dass die Beschwerden in der Schwangerschaft nachließen, sagt Wolfgang Paulus, »aber eben nicht völlig«. Laut dem Gynäkologen, der eine Beratungsstelle für Reproduktionstoxikologie an der Universitäts-Frauenklinik Ulm leitet, sind die Kriterien für die nötigen Medikamente einfach zusammenzufassen: »Wirksamkeit für die Mutter, Sicherheit für das Kind.«
Die Anforderung ist dennoch komplex: Selbst Ärzte wissen nicht immer, was zu tun ist. Von mehr als 700 000 Schwangerschaften in Deutschland pro Jahr stehen etwa 150 000 Frauen vor einem Problem. Paulus führt als Beispiel die Verunsicherung über die Anwendung von Paracetamol an. Das Schmerzmittel sei eines der am häufigsten verwendeten und als sicher geltenden Medikamente zur Akutbehandlung in der Schwangerschaft. Das wurde durch diverse statistische Auswertungen bestätigt. Erst in diesem Jahr konnte eine große schwedische Studie mit fast 2,5 Millionen Kindern noch einmal Entwarnung geben: Durch Registerdaten war eine sogenannte Geschwisterkontrolle möglich; in einer Schwangerschaft wurde Paracetamol genommen, in der anderen nicht. Die Häufigkeit zum Beispiel von Autismus oder der Aufmerksamkeitsstörung ADHS unterschied sich nicht.
Dennoch sind nicht alle Medikamente zur Migränebehandlung Schwangeren so klar zu empfehlen wie Paracetamol, gerade wenn es um eine stärkere Wirkung geht. Regelrecht kontraindiziert, also keinesfalls anzuwenden ist das Epilepsiemittel Topiramat. Es kann zur Migränevorbeugung eingesetzt werden, aber eben nicht bei Frauen, die schwanger werden können, da ein deutlich erhöhtes Risiko für Fehlbildungen damit verbunden ist. Ähnliches gilt für Valproat, ein weiteres Mittel gegen Epilepsie.
Einige wenige andere Medikamente gelten als sicher, für viele fehlen jedoch klinische Studien. Laut Paulus sind mehr Register nötig, in die alle medizinischen Daten der Bevölkerung eingehen. Deutschland sei hier noch sehr rückständig. Die wenigen Beratungsstellen zur Thematik – neben der in Ulm gibt es eine an der Berliner Charité – sind auf Beobachtungsstudien angewiesen, bei denen die Frauen aber sehr uneinheitliche Voraussetzungen mitbringen.
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Ein weitere noch unterversorgte Gruppe in Bezug auf Migräne- und Kopfschmerztherapie sind Kinder und Jugendliche. Viele in Deutschland erhobene Daten zur ärztlichen Behandlung von Heranwachsenden weisen auf ein zunehmendes Problem hin. Das bestätigt Gudrun Goßrau vom Universitätsklinikum Dresden. Schon im Vergleich von 2003 zu 2017 waren die Zahlen der Erkrankten bundesweit angestiegen, bei den Mädchen stärker als bei den Jungen, mit einer Zunahme auch schon unter den sieben- bis 13-Jährigen. Nach Daten der AOK Plus für Sachsen waren 2021 20 Prozent der dort versicherten Kinder wegen Kopfschmerzen in Behandlung, wobei alle Infektdiagnosen schon abgezogen wurden. Laut Neurologin Goßrau, die in Dresden die universitäre Kopfschmerzambulanz leitet, gehen noch nicht einmal alle betroffenen Kinder zum Arzt.
Je älter die erkrankten Kinder sind, desto schwerer seien die Einschränkungen im Alltag. Laut Großrau sind Mädchen stärker betroffen, es komme zu Schulausfall, der Bildungsweg sei oft gefährdet. Über Migräne-Auslöser sei bereits einiges bekannt, darunter sind Schlafmangel, Stress, Lärm und bestimmte Lichtreize – wie die von Videospielen. Betroffene Kinder haben zudem eine stärkere Geruchswahrnehmung und sind insgesamt schmerzempfindlicher. Empfohlen wird nach den Erfahrungen in Dresden ein multimodales Therapieprogramm. Dabei geht es darum, den Kindern Wissen zu ihrer Krankheit zu vermitteln, um Entspannungstechniken oder auch körperliche Aktivierung. Auch die Eltern werden einbezogen. Aber diese Versorgungsformen seien erst noch flächendeckend aufzubauen, fordert Goßrau. Spezifische Einrichtungen gibt es nicht einmal in jedem Bundesland – aber eine sehr große und wachsende Zahl von Patienten.
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