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NRW: Sieben weitere Opfer rechter Gewalt offiziell anerkannt
Opferberatungen kritisieren mangelnde Transparenz und Anerkennungslücken in Bericht des Landeskriminalamts
Politisch interessierte Menschen kennen das: Sie lesen einen Artikel oder ein Buch über die extreme Rechte in Deutschland und stoßen dabei auf die Zahl der von Rechten getöteten Menschen seit 1990. In manchen Texten steht dann die Zahl 113, in anderen die Zahl 219. Die niedrigere Zahl ist die offizielle, sie leitet sich aus der beim Bundeskriminalamt geführten Statistik ab. Die andere Zahl stammt von der Amadeu-Antonio-Stiftung. Die große Diskrepanz ist auf unterschiedliche Bewertungskriterien zurückzuführen. Ein Ärgernis, für Wissenschaft, Politik, Gedenkinitiativen und nicht zuletzt für die Angehörigen, die oft unter der fehlenden staatlichen Anerkennung leiden.
In Nordrhein-Westfalen hat man nun reagiert. Schon vor zwei Jahren erkannte die Landesregierung den neonazistischen Dreifachmord von Overath aus dem Jahr 2003 an. Danach hatte das Innenministerium angekündigt, mehr alte »Grenzfälle« zu untersuchen. Eine Expertinnengruppe im Landeskriminalamts hat sich mittlerweile 30 alte Fälle angeschaut. Sie alle wurden im Projekt Todesopfer rechter Gewalt in Nordrhein-Westfalen (Toreg NRW) zusammengefasst. Vom Brandanschlag in Duisburg 1984, bei dem sieben aus der Türkei stammende Menschen starben, bis zum Mord an einem Kurden in Dortmund, der 2020 von einem Anhänger der »Grauen Wölfe« begangen wurde. Das Ergebnis ist ernüchternd. Nur sieben der 30 Fälle finden Eingang in die offizielle Statistik tödlicher rechter Gewalt.
Die beiden oben geschilderten Fälle gehören nicht dazu. Und das sorgt für Kritik. Die Opferberatung Rheinland und Back up, eine Betroffenenberatung aus Köln, haben nach Erscheinen des Berichts des Landeskriminalamts eine umfassende Stellungnahme veröffentlicht. Hauptkritikpunkte der Beratungsstellen sind fehlende Transparenz und ein mangelhafter Umgang mit Hinterbliebenen und Überlebenden. »Eine aktive Involvierung von unabhängigen wissenschaftlichen Akteuren, spezialisierten Beratungsstellen und Zivilgesellschaft fand bei Toreg NRW nicht statt. Diese Intransparenz zeigt keinen verantwortungsbewussten Umgang mit der alltäglichen und tödlichen Dimension von rechter Gewalt, geschweige denn mit den Überlebenden und Angehörigen«, erklärt Fabian Reeker, Leiter der Opferberatung Rheinland.
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In anderen Bundesländern habe man es besser gemacht. In Thüringen und Berlin etwa seien unabhängige wissenschaftliche Überprüfungen durchgeführt worden, die zu zusätzlichen Anerkennungen geführt hätten. Unabhängie Expertinnen in solchen Gruppen führten nicht nur zu mehr Transparenz, sondern bei Hinterbliebenen auch zu einem stärkeren Vertrauen in staatliche Institutionen. »In NRW wurde eine wichtige Chance verpasst. Wir sind überzeugt, dass eine umfassendere und unabhängige Untersuchung, wie sie in anderen Bundesländern durchgeführt wurde, mit mehr Zugang zu Akten und der Einbeziehung von Hinterbliebenen, Überlebenden und spezialisierten Beratungsstellen, dazu geführt hätte, dass weitere Fälle als politisch rechtsmotivierte Tötungsdelikte anerkannt worden wären«, ist sich Reeker sicher.
Nicht als rechte Tat gezählt wurde etwa der Brandanschlag in Duisburg 1984. »Als Überlebende und als Hauptzeugin habe ich bis heute über den Verlauf des Anschlags keine Aussagen gemacht. Niemand hat nach meiner Aussage gefragt«, sagt Aynur Satır, Überlebende des Anschlags. »Es war so, als hätte unsere Geschichte als Familie keine Wichtigkeit in den Verfahren gehabt.« Vor dem Hintergrund dieser Tatsache kritisiert die Opferberatung Rheinland umso mehr, dass zum Beispiel als Grundlage für die Neubewertung des Falles lediglich das Urteil hinzugezogen wurde. »Meine und die Erfahrungen und Beobachtungen meiner Familie haben die Ermittler nicht interessiert, tun es auch bis heute nicht«, kritisiert Aynur Satır. Angehörige berichteten der Opferberatung außerdem, dass sie teilweise erst einen Tag vor der Vorstellung des Projekts vom polizeilichen Opferschutz kontaktiert worden seien.
Im offiziellen Bericht des Landeskriminalamts heißt es, man sei seiner Verantwortung gerecht geworden. Landesinnenminister Herbert Reul (CDU) sprach am Donnerstag im Innenausschuss des Landtags davon, der Bericht zeige die »Fehlerkultur« der nordrhein-westfälischen Polizei. Mit dem Bericht habe man »Rechtsextremismus sichtbarer gemacht«, dies sei man Angehörigen und Überlebenden »schuldig«. Bei den Beratungsstellen kommt man zu einem anderen Schluss: Das Projekt scheitere »an der notwendigen Transparenz und Sensibilität im Umgang mit den Opfern«. Der bundesweite Dachverband der Beratungsstellung für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) schließt sich in einer eigenen Stellungnahme der Kritik der nordrhein-westfälischen Beratungsstellen an und verweist deutlich auf die mangelnde Transparenz. So sei völlig unklar, warum der dreifache Polizistinnenmord in Dortmund im Jahr 2003 nicht anerkannt wurde, während ein ähnlicher Fall aus Schleswig-Holstein in der offiziellen Statistik auftaucht.
Was der Dachverband jedoch anerkennt: In Nordrhein-Westfalen wurde immerhin eine Durchsuchung durchgeführt. In zwölf Bundesländern wurde bisher nicht systematisch in die Akten geschaut. Außerdem habe die Anerkennung von Josef Anton Gera, der 1997 in Bochum umgebracht wurde, und von Thomas Schulz, der 2003 von einem Neonazi in Dortmund erstochen wurde, gezeigt, wie wichtig Gedenk- und Aufklärungsarbeit vor Ort sei.
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