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- Protest gegen Rüstungsindustrie
Eine Nacht, die nach Pfefferspray und Pyrotechnik riecht
Das Bündnis »Rheinmetall entwaffnen« versuchte am Freitag die Kieler Rüstungsindustrie zu blockieren
Es ist zwei Stunden nach Mitternacht, als ein Klingeln die Stille der Nacht durchschneidet. Ein zweiter Wecker stimmt mit ein, dann ein dritter und bald hallt ein leises Weckton-Konzert über den Kieler Werftpark. Ein mehrstimmiger Kanon aus den Klingeltönen von Android-Handys und iPhones. Zu den Sternen am schwarzen Himmel gesellt sich ein rot-grünes Blinken: eine Drohne der Polizei. Sie blickt hinab auf die letzten Vorbereitungen am Tag der Aktion für das antimilitaristische Bündnis »Rheinmetall Entwaffnen«.
Die meisten von denen, die gerade möglichst leise durch den Park wuseln, um noch einmal aufs Klo zu gehen, einen Kaffee zu trinken, oder die Zähne zu putzen, haben kaum ein Auge zugedrückt. Vor Aufregung, oder weil sie noch letzte Vorbereitungen treffen mussten. Denn es ist erst wenige Stunden her, als ihr Aktionsplenum in dem Zirkuszelt endete, das während der Aktionstage »Kiel entwaffnen! Rüstungsindustrie versenken!« eine Art Dorfplatz für das Camp darstellt. Dort wurde auf die bevorstehende Aktion eingeschworen. »Man kann den großen Krieg gegen China bereits am Horizont sehen«, mahnte ein Sprecher des Bündnisses. Und mit einer ruhigen Stimme, die etwas Wichtiges verheißt: »Wir fühlen uns verpflichtet einzugreifen«. Seine Kollegin ergänzt: »Wenn wir hier blockieren, kann die Rüstungsindustrie anderswo keinen Schaden anrichten«. Was genau blockiert werden soll, bleibt vorerst ein Geheimnis. Niemand soll die Pläne durchkreuzen.
Das Ziel bleibt geheim
Denn auch wenn der Name des Bündnisses es anders vermuten lässt, sein Protest beschränkt sich nicht nur auf den größten deutschen Rüstungskonzern Rheinmetall, sondern richtet sich gegen die deutsche Rüstungsindustrie als Ganzes. Mit Waffen aus Deutschland soll, wenn es nach »Rheinmetall Entwaffnen« geht, nirgendwo Krieg geführt werden. Und Kiel ist mit den Unternehmen rund um den Hafen einer der »Rüstungs- und Militär-Hotspots in Deutschland«, wie die Organisation schreibt.
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Nur so viel steht fest: die Aktivist*innen wollen ein »Werk der Kieler Rüstungsindustrie blockieren« und zwar in dem sie die Arbeiter der Frühschicht daran hindern, an ihren Arbeitsplatz zu gelangen. Doch auf dem Aktionsplenum geht es weniger um den konkreten Ort als um die Vorbereitung auf die Aktion. »Es ist sinnvoll, eine schwarze Regenjacke einzupacken«, heißt es, und Handschuhe solle man auch mitnehmen, diese würden »gegen die Kälte helfen«. Dass es nicht darum geht in einer Sommernacht warm angezogen zu sein, sondern durch ähnliche Outfits in der Masse unterzutauchen – das versteht hier jeder. Das Handy soll im Zelt bleiben, eine Nummer für rechtliche Hilfe mit Edding auf den Arm geschrieben werden und Wasserflaschen mit Saugverschluss gehören ebenfalls zur Ausrüstung. Damit kann Pfefferspray aus den Augen gespült werden. Die Flaschen werden später schneller gebraucht, als viele denken.
Auf das Aktionsplenum folgt die »Fingeraufstellung«, also eine Probe der Formation, in der sich die Menschenmenge nachts fortbewegen möchte. Die Protestierenden nennen einen eigenständigen Abschnitt ihres Demonstrationszugs Finger, weil sich die einzelnen Teile möglichst aufspreizen sollen, wenn der Kontakt mit der Polizei naht – so wie die ausgestreckten Finger von einer Handfläche.
Jetzt gilt es, das trainierte umzusetzen: Es ist 2:49 Uhr und die beiden Finger setzen sich in Bewegung. Laute Parolen dringen in das Schwarz der Nacht: »Kein Mensch, kein Cent der Bundeswehr«, »Krieg dem Krieg, überall – bringt die Nato jetzt zu Fall«, aber auch »Free, Free Palestine«. Über den hügeligen Werftpark, etwas östlich des Kieler Innenhafens, führt der Weg ein kurzes Stück durch einen Wald. Während die einen kräftige Schlachtrufe anstimmen, machen sich andere Sorgen über die bevorstehende Route: Mehrere Engstellen könnten der Polizei die Möglichkeit bieten, den Zug zu stoppen. Immer wieder warten am Rand Radler*innen, die sich kurz mit Personen aus der Menschenmasse austauschen. Sie erkunden offenbar die Gegend nach Polizeipositionen.
Parolen und Pfefferspray
Erleichterung bei Jonah Fischer vom Presseteam des Bündnisses: Die erste Gefahrenzone ist passiert. Dafür hat sich ein Polizeiauto vor das Menschenpulk gesetzt. »Die kritischste Stelle ist eine schmale Fußgängerbrücke über das Kieler Hafenbecken«, erklärt Fischer. Er läuft ein wenig abseits und verliert für einen Moment den Anschluss, weil der Demonstrationszug unerwartet links abgebogen ist. Der Grund wird wenig später sichtbar: Die Polizei hatte das Ende der Brücke tatsächlich abgeriegelt.
Prompt reagiert die Polizei auf die kurzfristige Änderung der Route: Auf der anderen Seite der Hafenbucht rast Blaulicht die Straße entlang. Eine Gruppe von Polizist*innen rennt hinterher. Anstatt über die Fußgängerbrücke geht es für die Aktivist*innen jetzt um das Hafenbecken herum. Unter einer Brücke für Autos kommt es zum Zusammenstoß: Beamte blockieren den Weg, doch die Aktivist*innen geben nicht nach und versuchen, sich durchzudrücken. Die Polizei reagiert mit Pfefferspray, Schlagstöcken, Schlägen und Tritten. In einer Pressemitteilung wird sie es später so darstellen: »Ein Teil des Aufzugs ging unvermittelt die Beamten an und versuchte massiv, die polizeiliche Absperrung zu durchbrechen«. Es ist die Rede von zwei verletzten Polizeibeamten, einer von ihnen »war nach einem Schlag mit einer Holzlatte nicht mehr dienstfähig«. Tatsächlich ist auf einer Videoaufnahme des »nd« ein Teilnehmer mit einer Holzlatte, vermutlich zum Halten eines Plakates, zu erkennen, aber nicht, wie damit zugeschlagen wird. Unklar bleibt, ob ein Angriff auf einen Polizisten zu einem anderen Zeitpunkt erfolgte.
Jonah Fischer beklagt hingegen die »massive Gewalt« vonseiten der Polizei. An einem Brückenpfeiler haben Demosanitäter die Verletzten gesammelt. Es sind Schmerzensschreie zu hören und tränende Augen zu sehen. Szenen, wie nach einer Schlacht. Viele sitzen einfach nur da, lehnen mit hängenden Schultern und leerem Blick an Straßenpollern. Die freiwilligen Sanitäter haben alle Hände voll zu tun, sie versuchen Pfefferspray aus den Augen zu spülen und sich einen Überblick über die Verletzten zu verschaffen. Eine Person bekommt eine Halskrause angelegt. Wenig später trifft ein Krankenwagen ein und bringt sie ins Krankenhaus. Eine gebrochene Nase, wie Fischer wenig später erfährt. Die Angaben zu den Verletzten – auf beiden Seiten – lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
Unter den Blicken einiger unbeteiligter Frühaufsteher, die das Geschehen von der Brücke aus beobachten, verliest ein Polizist die Auflagen für das weitere Vorgehen: Die Gruppe wird zu einer angemeldeten Kundgebung geführt, unter der Bedingung, dass sie auf Pyrotechnik und Vermummung verzichtet. »Auch FFP2-Masken zählen als Vermummung«, betont der Polizeisprecher mehrfach.
Blockierte Blockierer
Nach dem frühen Einschreiten der Polizei ist klar: Das ursprüngliche Ziel wird heute nicht mehr erreicht. Denn eigentlich – so viel ist inzwischen bekannt – wollte »Rheinmetall Entwaffnen« die Frühschicht der Anschütz GmbH stören, einem internationalen Unternehmen, dass unter anderem Navigationstechnik für die Raketenabwehr von Militärschiffen herstellt. Dass die Blockade keine leichte Sache sein würde, wurde spätestens mit Beginn des Camps zu Beginn der Woche deutlich. Denn die Kieler Rüstungsindustrie hat sich gerüstet. »Die Sicherheit der Beschäftigten hat für Thyssenkrupp Marine Systems stets höchste Priorität, weshalb in Abstimmung mit den Sicherheitsbehörden Maßnahmen ergriffen worden sind, die mögliche Einflüsse von Seiten des Protestcamps vermeiden sollen«, schreibt die Marine-Tochter von Thyssenkrupp dem »nd«. Rheinmetall habe seine Mitarbeiter gleich für den ganzen Tag freigestellt, will das Antimilitarismus-Bündnis zudem erfahren haben. »Allein das Camp hat die Kieler Rüstungsindustrie zittern lassen«, lautet deshalb bereits am Vorabend im Zirkuszelt das Resümee.
Nachdem alle FFP2-Masken unter die Nase gezogen wurden – so die Auflage – setzt sich der Demonstrationszug wieder in Bewegung, eng umstellt von der Polizei. Inzwischen ist es etwa vier Uhr. Enttäuschung ist den Aktivist*innen nicht anzumerken. Entschlossen ziehen sie durch die Nacht und rufen: »Iran, Irak, Syrien, Türkei – bei jeder Schweinerei ist die BRD dabei« oder »Deutsche Waffen, deutsches Geld, morden mit in aller Welt«. Ein langer Marsch liegt vor ihnen. Das neue Ziel – eine Kaserne – liegt etwa sechs Kilometer entfernt.
Viel Zeit also für Jonah Fischer, über das Bündnis »Rheinmetall Entwaffnen« zu erzählen. Dessen Geschichte begann mit einem Foto. Es war das Bild eines deutschen Leopard2-Panzers des Waffenbauers Rheinmetall im nordsyrischen Afrin. Ein Beweis dafür, dass auch deutsche Waffen an der türkischen Militäroffensive gegen die kurdische YPG beteiligt waren, die von vielen Jurist*innen als völkerrechtswidriger Angriffskrieg bewertet wird. Mit diesem Foto warb »Rheinmetall Entwaffnen« für seine erste Aktion 2018. Das erklärt auch, warum die Solidarität mit der Arbeiterpartei Kurdistans PKK eng mit dem Bündnis verwoben ist.
Protest nach der Zeitenwende
Doch seit 2018 hat sich viel getan. Während es früher noch darum ging, überhaupt darauf aufmerksam zu machen, dass in Deutschland Waffen für Kriege produziert werden, hat sich seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine das Image der deutschen Rüstungsindustrie gewandelt. Diese genießt inzwischen eine selten dagewesene Akzeptanz. »Heute kämpfen wir gegen die öffentlich hegemoniale Politik«, so Fischer. Deshalb habe sich »Rheinmetall Entwaffnen« zum Ziel gemacht, eine neue antimilitaristische Bewegung anzustoßen. »In Zeiten der neuen Militarisierung braucht es eine neue Antikriegsbewegung«, sagt Fischer. »Wir sind der Teil der radikalen Linken, der den Entwicklungen der Zeit etwas entgegensetzt.« Anders gesagt: »Rheinmetall Entwaffnen« will die Zeitenwende zurückdrehen.
Zwar sei das Bündnis solidarisch mit der »alten« Friedensbewegung, doch es gebe Unterschiede, so Fischer. Denn im Gegensatz zu vielen anderen Akteuren begreife sich »Rheinmetall Entwaffnen« nicht als pazifistisch. »Klar wollen wir in einer Welt mit Frieden leben«, erklärt Fischer. »Aber wenn eine unterdrückte emanzipatorische Bewegung zu bewaffnetem Widerstand greift, dann erkennen wir das an.«
»Wir sind der Teil der radikalen Linken, der den Entwicklungen der Zeit etwas entgegensetzt.«
Jonah Fischer Pressesprecher von »Rheinmetall entwaffnen«
Das sorgt für Spannungen innerhalb des Bündnisses. Die Frage nach Waffenlieferungen an die Ukraine hat für viel Aufregung gesorgt. Einige Mitglieder haben »Rheinmetall Entwaffnen« verlassen, weil sie sich gegen die Haltung des Bündnisses stellten, Waffenlieferungen abzulehnen. Dennoch ist das diesjährige Camp das bisher größte, das das Bündnis bislang auf die Beine gestellt hat. Und mit laut eigenen Angaben 500 Teilnehmenden (die Polizei spricht von 300 Personen) gehört auch der Blockadeversuch zu den größten Aktionen der Organisation.
Unterstützung für den bewaffneten Widerstand in Kurdistan, aber eine Verweigerung der militärischen Hilfe für die Ukraine: Wie passt das zusammen? »Bei der Ukraine handelt es sich um einen Nationalstaat, der nicht mit seiner Bevölkerung gleichzusetzen ist«, meint Fischer. »Die PKK und Kurdistan hingegen sind emanzipatorische Befreiungsbewegungen.«
Rückzug in der Dämmerung
Als der Aufzug um kurz vor sechs vor der Kaserne eintrifft, beginnt es zu dämmern. Die Stimmung unter den Teilnehmenden ist gut – trotz der Zusammenstöße mit der Polizei und des gescheiterten Blockadeversuchs. Sie sind sogar zu Scherzen aufgelegt: »Jetzt brauchen wir nur noch Kleber, dann können wir einen auf Klimaaktivist*innen machen«, sagt eine Teilnehmerin zu einer anderen, die am Straßenrand auf der Bordsteinkante rastet.
Dann zieht sich ein Teil der Demonstrierenden eine gelbe Weste und einen pinken Schal an. Gerade als sich die Sonne über den Horizont hebt, tritt »Rheinmetall Entwaffnen« den Rückzug an. Jetzt ist es hell und die Demonstration im Kieler Stadtzentrum bekommt viel Aufmerksamkeit. Viele drücken ihre Zustimmung aus. Nur einmal hört man einen Mann von dem »Pazifisten-Pack« raunen. Am Schritttempo merkt man, das die Teilnehmenden zurück ins Camp wollen. Es ist 9:30 Uhr als sie dort unter Jubelrufen und Applaus empfangen werden. Der Abschluss eines stundenlangen Einsatzes, der endet, als für viele der Tag erst beginnt.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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