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Klimawandel, Korruption und Krieg
Die libysche Stadt Darna ein Jahr nach der Flutkatastrophe
Ein Jahr nach den schweren Verwüstungen durch das Sturmtief Daniel verläuft der Wiederaufbau in der ostlibyschen Stadt Darna weiter schleppend. Zwischen 4000 und 10 000 Menschen starben, als in den Morgenstunden des 11. September 2023 eine Flutwelle ein Drittel der Stadt in das Mittelmeer riss. Schätzungen lokaler Aktivisten gehen sogar von bis zu 20 000 Toten aus, darunter viele nicht registrierte Gastarbeiter aus Ägypten und dem Sudan. Die meisten der 40 000 Bewohner, die ihre Wohnungen und Häuser verloren hatten, leben bei Verwandten oder in Flüchtlingslagern.
Im Februar hatte Parlamentspräsident Agila Saleh einen Fonds geschaffen, der die von russischen und ägyptischen Firmen durchgeführten Aufräumarbeiten und den Bau neuer Stadtteile finanzieren soll. Die darin enthaltenen 2,1 Milliarden Dollar stammen aus dem Verkauf libyschen Rohöls und werden von Belqasem Haftar verwaltet, einem Sohn von Feldmarschall Khalifa Haftar. Der 74-Jährige kontrolliert mit der von ihm selbst aufgebauten Libyschen Nationalarmee weite Teile des Ostens und Südens des ölreichsten Staates Afrikas.
Khalifa Haftar kontrolliert Wiederaufbaugelder
Mit der international anerkannten Regierung in Tripolis steht Haftar auf Kriegsfuß. Derzeit ringt er mit Premier Abdelhamid Dbaiba um die Neubesetzung der Führungsspitze der Zentralbank. Auch die Gelder für den Wiederaufbau Darnas stammen aus den Tresoren in Tripolis, damit steht das immer noch weitflächig zerstörte Darna im Fokus eines politischen Machtkampfes. Die Wiederaufbaugelder sollten aus Sicht vieler Opfer von den Vereinten Nationen kontrolliert werden, doch zurzeit kann die Familie des Feldmarschalls über die Verwendung uneingeschränkt walten.
3500 Gebäude seien wiederaufgebaut worden, so Belqasem Haftar am Dienstag in Bengasi, der Wiederaufbauplan sei zu 70 Prozent erfüllt. Dem Fotografen Mohammad Mnena sind die Zahlen egal. »Nicht nur die Häuser müssen wiederaufgebaut werden, sondern auch das, wofür Darna wie kaum eine andere libysche Stadt vor der Flut und dem Krieg bekannt war: das tolerante Zusammenleben unterschiedlicher Gruppen.«
Naturkatastrophe historischer Dimension
Am Abend des 10. September vergangenen Jahres traute sich Mnena kaum aus dem Haus. »Die Sturmböen peitschten so stark durch die Straßen, dass alte Bäume vor meinen Augen wie Streichhölzer umgeknickt wurden. Wir hatten Angst, die unter uns liegende Stadt könnte vom tobenden Meer verschluckt werden. Ich ging dennoch einmal pro Stunde heraus, um von dem Chaos Fotos zu machen. Mir war klar, dass diese Stunden historische Dimensionen hatten.«
»Die Sturmböen peitschten so stark durch die Straßen, dass alte Bäume vor meinen Augen wie Streichhölzer umgeknickt wurden.«
Mohammad Mnena Fotograf aus Darna
Mnena hatte keine Vorstellung davon, was in den folgenden Stunden über die idyllisch an den Ausläufern der Bergkette Al-Dschabal Al-Akhdar gelegene Küstenstadt Darna hereinbrechen würde. Das seit dem 5. September über das östliche Mittelmeer wandernde Sturmtief hatte bereits bei Kreta eine noch nie gemessene Stärke erreicht und füllte sich auf dem Weg Richtung Libyen wegen der hohen Temperaturen mit noch mehr Wasser und Energie.
In der von Jahren schwerer Kämpfe zwischen Haftars Armee und Islamisten zerstörten Innenstadt bereitete man sich auf den nächsten Notstand vor. Während in einigen niedrig liegenden Stadtteilen Lautsprecherwagen der Armee die Bewohner auffordern, ihre Häuser zu verlassen, rüsteten sich die Familien, die an den Hängen der oberhalb der Stadt liegenden Bergkette wohnten, mit Lebensmitteln für mehrere Tage aus. Da in der zwischen dem Mittelmeer und den Bergen liegenden Stadt der Platz knapp ist, wurden in Darna viele Hochhäuser gebaut. Viele dachten, einer Flut könne man in den bis zu zwölf Stockwerken hohen Gebäuden entgehen.
Zehnstöckige Häuser versanken im Meer
Die vom deutschen Wetterdienst errechnete Niederschlagsmenge von 1000 Millimetern lag »außerhalb der bekannten Erwartungswerte«. Im übertragenen Sinne müsse von einer Sintflut ausgegangen werden, sagten die Experten Stunden bevor das Sturmtief Daniel auf Darna traf. Zeit, den Hafen mit Sandsäcken zu schützen, blieb nicht. Auch weil seit der Besatzung Darnas durch den Islamischen Staat 2014 bis 2018 sämtliche Mitarbeiter des Zivilschutzes umgebracht worden oder geflohen waren.
»Kurz vor Sonnenuntergang hörte ich ein donnerndes Geräusch, das den Sturm fast wie Stille klingen ließ«, so Mohammad Mnena. Nicht die am Hafenpier peitschenden Wellen waren über das Ufer getreten, zwei Dämme des oberhalb von Darna gelegenen Stausees hatten dem Druck der Wassermassen nicht mehr standgehalten. Innerhalb weniger Minuten spülte eine Flut aus Wasser, mitgerissenen Gebäuden und Autos rund ein Drittel der Stadt ins Mittelmeer. »Es dauerte wohl nur Minuten, aber als ich von meinem sicheren Beobachtungspunkt aus sah, wie zehnstöckige Häuser mitsamt Freunden von mir im Meer verschwanden, meine Schule, Straßenzüge mit Cafés, in denen ich täglich arbeitete, blieb die Zeit stehen«, erinnert sich Mnena. »In einigen Momenten steht sie auch heute noch still.«
Versagen der Stadtverwaltung
Während die von Khalifa Haftar kontrollierte Lokalverwaltung 11 300 Tote, 8000 Vermisste und 7000 Verletzte zählte, bleiben Menschenrechtsorganisationen bei ihrer Zahl von 23 000 Toten. Nachdem der Islamische Staat von Haftars Soldaten vertrieben worden war, waren viele Familien aus den anderen Konfliktgebieten Libyens in das für seine guten Bildungseinrichtungen bekannte Darna gekommen. Die meisten siedelten an dem von alteingesessenen Familien gemiedenen Wadi-Flusslauf. Diese Tiefebene war in der Dürreperiode der letzten Jahre knochentrocken und bot günstiges Bauland. Weil die neuen Bewohner nach Jahren der Depression einen kleinen Wirtschaftsboom ausgelöst hatten, drückte die Stadtverwaltung ein Auge zu.
Doch wer weiter oberhalb am Rand des mächtigen Stausees lebte, sah die Katastrophe kommen. »Die nach dem Sturz Muammar Al-Gaddafis beauftragten Wartungsarbeiten wurden nie durchgeführt«, sagt Mohammad. Der Ingenieur war an dem Bau der beiden Talsperren in den 70er Jahren beteiligt. Seinen Nachnamen möchte er lieber nicht gedruckt sehen. »Schon bei der großen Flutwelle 1959 gab es viele Tote. Seitdem sind die Herbststürme unberechenbar geworden. Niemand hätte im Wadi von Darna leben sollen.«
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