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Parteiloser Wahlkampf: Ein österreichisches Oxymoron
Die Gruppe Wir* gegen Rechts mobilisiert zu den österreichischen Nationalratswahlen. Das Ziel: ein breites Bündnis gegen die FPÖ
In einem Treppenhaus am Friedrich-Engels-Platz-Hof in der Brigittenau, dem multikulturellen 20. Wiener Gemeindebezirk, riecht es nach einer Mischung aus Rauch und Putzmitteln. Die Wohnhausanlage ist der zweitgrößte kommunale Wohnbau aus Zeiten des Roten Wiens, als zwischen 1919 und 1934 die Sozialdemokratie die absolute Mehrheit in der Stadt innehatte. Traditionell wählt Brigittenau bis heute rot – inzwischen aber von rechtsradikalen Ausreißern durchsetzt. Im etwas düster anmutenden Flur hängt ein buntes Plakat. »Wir* gegen Rechts« steht darauf, auf Deutsch, Türkisch, Hocharabisch und in weiteren Sprachen. Darunter: »Wir sind viele. Wir sind divers. Wir sind gegen Rechtsextremismus und Rechtsruck. Und wir tun etwas dagegen! Mach mit!«
Nach »vielen« fühlt es sich an einem frühen Augustabend im Vorhof des Friedrich-Engels-Platzes nicht an. Sonderlich divers auch nicht. Acht Personen stehen in einem Kreis. Sie wollen von der Gruppe Wir* gegen Rechts lernen, vor den anstehenden Nationalratswahlen Haustürgespräche zu führen – also an fremden Türen zu klingeln und sich über die anstehenden Wahlen zu unterhalten. Das Ziel: im Herbst eine Regierungsbeteiligung der rechtsradikalen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) zu verhindern. Laut aktuellen Prognosen dürfte die FPÖ mit knapp unter 30 Prozent gewinnen. Die »Tagespresse«, so etwas wie die österreichische »Titanic«, titelte nach den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen: »Peinliche TV-Panne: ARD zeigt österreichisches Wahlergebnis vier Wochen zu früh«.
Eine junge Frau in sommerlicher Bluse und unübersehbar schwanger, stellt sich als Katie Schalmann von Wir* gegen Rechts vor, wirft einen Blick in die Runde und fragt, wer in Österreich wahlberechtigt sei – in Wien trifft das nur auf knapp zwei Drittel der Bevölkerung zu, im ganzen Land auf vier Fünftel. Die Hälfte der Runde am Friedrich-Engels-Platz hebt die Hand, Schalmann hält ihre gesenkt. Eine Person in Wanderschuhen erzählt, extra aus Niederösterreich angereist zu sein. Sie sei zu jung, um zu wählen, wolle aber trotzdem etwas gegen den Rechtsruck tun. Schalmann nickt und wirkt wenig überrascht: Dafür sei Wir* gegen Rechts schließlich da.
Stimmen sammeln im Gemeindebau
Die Anlage des Friedrich-Engels-Platz-Hofes erstreckt sich über zwei Wahlsprengel, die österreichische Form des Wahlbezirks. Die FPÖ belegte dort bei den letzten Nationalratswahlen vor fünf Jahren die Plätze zwei und drei, die Wahlbeteiligung lag in beiden Sprengeln deutlich unter dem Wiener Durchschnitt bei 50 Prozent. Aktivist*innen von Wir* gegen Rechts empfehlen deswegen bei ihren Haustürgesprächen grün zu wählen, die Sozialdemokratie (SPÖ) oder die Kommunisten (KPÖ). Kurz: alles links der Mitte. Können sich Personen für keine Partei erwärmen, raten die Aktivist*innen, ungültig zu wählen.
Auch für überzeugte Anhänger*innen der rechtskonservativen ÖVP haben sie ein Angebot dabei: einen QR-Code zu einer Petition gegen eine ÖVP-FPÖ-Koalition. ÖVP-Chef Karl Nehammer schließt diese weiterhin nicht aus. Für ihn ist die FPÖ eine »heterogene« Partei, wie er immer wieder betont. Die letzte rechts-rechtskonservative Regierung endete 2019 mit ihrer Auflösung nach dem Ibiza-Skandal.
»Manchmal reicht es, wenn vier Personen etwas Kleines machen und dann schauen, was passiert.«
Katie Schalmann Wir* gegen Rechts
Nach einem kurzen Input wird die Runde in der Brigittenau losgeschickt, um an Wohnungstüren zu klopfen. Die Augen einiger Anwesender werden groß – niemand scheint damit gerechnet zu haben, gleich selbst aktiv werden zu müssen. Schalmann grinst. Schließlich ist der Sprung ins kalte Wasser bei ihr schon Jahre her. Als alle in Richtung der Gemeindewohnungen ausschwärmen, sitzt sie auf einer Bank neben einem Spielplatz in einem der Höfe des Gemeindebaus und erzählt.
Sie ist im Alter von acht Jahren aus Russland nach Deutschland eingewandert und vor einigen Jahren nach Österreich gezogen. Spätestens seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine bekomme sie mit, welches Gewaltpotenzial Autoritarismus habe. »Ich will nicht, dass sich Österreich in diese Richtung entwickelt«, sagt sie.
Der tägliche Strom an Nachrichten über Krieg, Armut und Klimakrise bildet selten ab, dass es bereits Lösungsansätze und -ideen, Alternativprojekte und Best-Practice-Beispiele gibt. Wir wollen das ändern. In unserer konstruktiven Rubrik »Es geht auch anders« blicken wir auf Alternativen zum Bestehenden. Denn manche davon gibt es schon, in Dörfern, Hinterhöfen oder anderen Ländern, andere stehen bislang erst auf dem Papier. Aber sie zeigen, dass es auch anders geht.
Jeden Sonntag schon ab 19 Uhr in unserer App »nd.Digital«.
Ihre ersten Erfahrungen mit »Organizing«, mit Mechanismen, »progressive Politik zu verbreiten«, machte sie in der Hochschulpolitik im britischen Brighton. Sie habe gemerkt, diese Praxis entspreche ihr am ehesten: »Ich wollte raus aus der linksradikalen Bubble und die gesamte Gesellschaft mitnehmen.«
Das Projekt wird zum Selbstläufer
So geht es auch den anderen Gründer*innen von Wir* gegen Rechts, deren Zahl sich im Frühling noch an einer Hand abzählen ließ. Aus der Klimagerechtigkeitsbewegung heraus entwickelt sich eine kleine »Selbsthilfegruppe«, wie die Aktivist*innen ihre Anfänge beschreiben. Ihnen macht der Rechtsruck in Österreich Sorgen – und genauso die Lähmung der außerparlamentarischen Linken.
Um dem Ohnmachtsgefühl zu entkommen, drucken sie Plakate und Sticker und erstellen eine Homepage, die 50 Handlungsempfehlungen für die Wahlen bereitstellt. Diese geht am Tag nach den EU-Wahlen online. Die FPÖ hatte diese mit 25,5 Prozent der Stimmen gewonnen, der seit Monaten prophezeite Rechtsruck wurde für viele erstmals greifbar – und plötzlich trudelt eine Anfrage nach der anderen ein, Hunderte Interessierte tummeln sich in ihrer Gruppe auf dem Messengerdienst Signal. Über den Sommer beginnt die Gruppe Wir* gegen Rechts Trainings in Wien, Graz und Linz abzuhalten und verbreitet ihre Inputs über Online-Workshops. »Manchmal reicht es, wenn vier Personen etwas Kleines machen und dann schauen, was passiert«, beschreibt es Schalmann. Die Initiative wachse von selbst.
Mit einer Einschränkung: Bisher sei die Bewegung sehr weiß. Dafür sei aber schön zu sehen, wie sich vor allem jüngere und ältere Personen, die sonst weniger aktiv seien, an der Initiative beteiligen, Gespräche an Wohnungstüren, in Parks oder beim Friseursalon führen wollen. Haustürgespräche waren bisher kein integraler Teil der österreichischen Politpraxis. Die Gruppe ließ sich von Bewegungskämpfen gegen die rechtsradikale Goldene Morgenröte in Griechenland, dem Wahlkampf des US-Demokraten Bernie Sanders und der Kampagne von Deutsche Wohnen & Co enteignen inspirieren.
In Wien, um Schalmann herum, herrscht Trubel, Kinder schreien auf dem Spielplatz, immer wieder klingelt ein Handy, ein Mann auf einem Motorrad umkreist den Platz. Schalmann spricht eloquent, hat aber den Eindruck, sich nicht konzentrieren zu können. »Es ist wahnsinnig schwierig, als hochschwangere Person eine politische Kampagne zu führen«, seufzt sie. Trotzdem könne sie derzeit nicht ruhig sitzen. Im Gegenteil: »Gerade laufen wir wie blöd.« Als die heutige Gruppe nach ihren Haustürgesprächen wieder zusammentrifft, ist es bereits dunkel. Schalmann fragt in die Runde, ob sie vorhätten, für weitere Gespräche aufzulaufen. Alle nicken. Im September ist Endspurt.
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