Untaugliches Sozialgesetzbuch

Die Pflegeversicherung ist aktuell schon wieder defizitär, aber die Reform lässt auf sich warten

  • Frédéric Valin
  • Lesedauer: 4 Min.
Schon für die Grundversorgung in der Pflege sind jeden Tag viele Handgriffe nötig.
Schon für die Grundversorgung in der Pflege sind jeden Tag viele Handgriffe nötig.

Es braucht dringend eine Reform der Sozialen Pflegeversicherung (SPV). Das sehen nicht nur Fachleute so, das hat in einem aktuellen Bericht auch der Bundesrechnungshof festgehalten. Im ersten Quartal 2024 wies die SPV ein Defizit von 650 Millionen Euro auf, und das, obwohl erst 2023 die Beitragssätze um 0,35 Prozentpunkte auf 3,4 Prozent der Bruttoeinnahmen (bei Kinderlosen auf vier Prozent) angehoben worden waren.

Hintergrund des Defizits ist ein starker Anstieg der Pflegebedürftigen in der Bevölkerung. Der Zuwachs lag im letzten Jahr bei 361 000 Menschen und damit elf Prozent über den Prognosen. Erstmals in der Geschichte der SPV liegt die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland über fünf Millionen. Das Gesundheitsministerium (BMG) geht davon aus, dass die Zahlen weiter steigen werden. Ob die SPV zukünftig überhaupt noch zu halten ist, scheint angesichts dieser desolaten wirtschaftlichen Entwicklung fraglich.

»Die Pflegeversicherung macht nur das absolut Nötigste und ist trotzdem ständig pleite, das hat doch keine Zukunft.«

Martina Hasseler  Pflegewissenschaftlerin

Ebenso fraglich ist, wie gut das Gesundheitsministerium auf die sich vermutlich weiter verschärfenden Entwicklungen vorbereitet ist. Noch im Juni dieses Jahres veröffentlichte die Expertenkommission des BMG einen Bericht, der angesichts der jetzigen Zahlen schon wieder überholt erscheint. »Da wurde sehr konservativ gerechnet«, sagt zum Beispiel Martina Hasseler, Professorin für Gesundheits- und Pflegewissenschaften an der Ostfalia Hochschule für angewandte Wissenschaften in Wolfsburg. »Mir wäre es inzwischen lieber, dieses ganze ineffektive System würde abgeschafft werden. Die Pflegeversicherung macht nur das absolut Nötigste und ist trotzdem ständig pleite, das hat doch keine Zukunft.«

Die Soziale Pflegeversicherung wurde 1995 mit dem Sozialgesetzbuch XI (SGB XI) eingeführt und seither nicht mehr grundlegend reformiert. Es handelt sich auch – anders als der Name glauben macht – nicht um eine Pflegeversicherung. Ihr vorrangiges Ziel war und ist, dass pflegebedürftige Menschen nicht auf Sozialhilfe zurückgreifen müssen. Es geht um die Sicherstellung einer Grundversorgung und nicht um tatsächliche Bedarfe der Personen; schon gar nicht geht es um eine pflegefachliche Versorgung. »Das Gesetz ist so gebaut, dass die Hilfebedürftigkeit zuallererst von Angehörigen aufgefangen werden soll und muss«, so Hasseler. »Der Grundgedanke war von Anfang an: Irgendeine Frau macht das schon.« Dadurch seien viele Leistungen, die notwendig wären, gar nicht in die Finanzierung aufgenommen worden, und entsprechend sei das SGB XI seit seiner Einführung in der Unterfinanzierung gewesen.

Jetzt aber, mit den aktuellen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisen, schwinde die Ressource »pflegende Angehörige«, die die Grundversorgung bisher zu einem überwiegenden Teil übernehmen. Wie groß dieser Teil ist, sei nicht klar: »Wir wissen gar nicht, wie viele pflegende Angehörige es überhaupt gibt. Wir wissen nicht, warum immer weniger Leute in Pflegeheime gehen. Wir wissen auch nicht, was die eigentlichen Bedarfe sind«, so Hasseler. »Aus der Politik höre ich immer wieder, die Grundversorgung in Deutschland sei auf einem hohen Niveau, dabei weiß das niemand, weil die Daten dazu gar nicht erhoben werden.«

Entsprechend plädiert auch die Gewerkschaft Verdi für eine Abschaffung der SPV zugunsten einer Pflegevollversicherung. »Alle pflegebedürftigen Menschen müssen die notwenige Versorgung bekommen, auch wenn sie wenig Einkommen und kein Vermögen haben«, so Vorstandsmitglied Sylvia Bühler. »Ein würdiges Leben im Alter ist ein Grundrecht, das im Solidarsystem garantiert werden muss.« In einer repräsentativen Umfrage von 2023 sprachen sich auch 81 Prozent der Bevölkerung für diese Lösung aus. Im aktuellen Teilleistungssystem liegt der durchschnittliche Eigenanteil für einen Heimplatz im ersten Jahr bei 2700 Euro monatlich.

Dass Handlungsbedarf besteht, sieht auch Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) so: »Die Probleme sind groß, aber sie sind lösbar«, sagte er im Juli dieses Jahres während der Präsentation des Expertenberichts. Noch dieses Jahr solle ein Konzept vorgelegt werden. Martina Hasseler erwartet sich nicht viel davon: »Offenbar geht es nur noch darum, das SGB XI um jeden Preis zu retten, weil es nun mal ein Gesetz ist. Aber solange die Strukturprobleme nicht erfasst werden, sind alle Konzepte zum Scheitern verurteilt.«

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