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Buch von Jens Balzer: Schwarz-weiße Denkfehler
Jens Balzer arbeitet in »After Woke« gut heraus, wo der Postkolonialismus falsch abgebogen ist
Wie ist es zu erklären, dass Anhänger des Postkolonialismus im Alltag »noch den unscheinbarsten ›Mikroaggressionen‹ und ›strukturellen Rassismen‹ nachspüren« und gleichzeitig eine »aggressive Verweigerung gegenüber allen Arten der Selbstbefragung« an den Tag legen, »was die eigenen antisemitischen Vorurteile und Stereotype angeht«? Warum haben ausgerechnet jene, die zu Recht die Überpräsenz toxischer Männlichkeit in sämtlichen Lebensbereichen kritisieren und sich für die Gleichberechtigung sämtlicher Geschlechter engagieren, so große Schwierigkeiten damit, gewalttätige nationalistische, islamofaschistische Fanatiker, die Vergewaltigung und Mord zu »Widerstand« umlügen, als Täter zu erkennen? Wie erklärt sich, dass dieselben sich »links« fühlenden, sich als antirassistisch verstehenden Leute, die mit einer Mischung aus Sprachmagie und Regulierungswut antidiskriminatorisch wirken wollen, »ausgesprochen gereizt auf jedweden Versuch reagieren, solche Regeln nun auch auf die Bekämpfung antisemitischer Stereotype anzuwenden«?
Anders gesagt und kürzer gefasst: Warum entpuppten sich etliche »postkolonial inspirierte Akteur*innen« (Balzer) als Antisemitinnen und Antisemiten, die spätestens nach der Terrorattacke vom 7. Oktober vergangenen Jahres bewiesen haben, dass ihre »Awareness« und ihre Achtsamkeit ebenso rasch wie zuverlässig dort enden, wo Jüdinnen und Juden von Diskriminierung betroffen sind oder ihren Kampf um Teilhabe führen?
In seinem Essay »After Woke« versucht sich der Journalist Jens Balzer daran, solche Fragen zu stellen und sie zu beantworten, was ihm teilweise auch gelingt. Dabei unternimmt er unter anderem Ausflüge in die Begriffsgeschichte der sogenannten Wokeness und in die Entstehungsgeschichte der Germanistik, zitiert diverse postkoloniale Theoretikerinnen und Theoretiker und analysiert den teils offenen Antisemitismus der stark von der »Nation of Islam« beeinflussten »Black Lives Matter«-Bewegung.
Viele Beobachtungen Balzers sind richtig: So wundert er sich etwa über die »klirrende Kälte gegenüber den Opfern« der Hamas, die »Empathielosigkeit« und die »Verpanzerung«, die viele linke Intellektuelle nach dem Terroranschlag vom 7. Oktober an den Tag legten, sowie über die in linken Kreisen mal mehr, mal weniger offene Idolisierung der radikalislamistischen Hamas, die – manch einer hat’s offenbar noch immer nicht geschnallt – »ein zutiefst patriarchales, misogynes, homo- und transfeindliches Weltbild pflegt«.
Anschaulich beschreibt der Autor die Mutation des Postkolonialismus zum »Wahrheitsregime« und zur »quasireligiösen Praxis« und zeigt, welcher haarsträubende, Menschen nach Hautfarben bewertende und antisemitische Irrsinn am Ende dabei herauskommen kann: »Im postkolonialen Wahrheitsregime, in dem Menschen strikt ›along the color line‹ in Schwarz und weiß eingeteilt werden, werden jüdische Menschen als privilegierte weiße Menschen betrachtet und damit auf die Seite der Unterdrücker oder Kolonialisten gestellt – worin sich übrigens auch ein alter Standard der antisemitischen Ideologie zeigt, denn dieser galten ›die Juden‹ ja schon immer als jenes Volk, das mit geheimen oder offensichtlichen Privilegien die Geschicke der Welt leitet.«
Doch Balzer ist natürlich klug genug, um zu wissen, dass die derzeit größere Bedrohung eines halbwegs liberalen Staatswesens wie des hiesigen nicht von der Minderheit der »Woken« ausgeht, wie uns reaktionäre Medien wie etwa »Die Welt« nahezu täglich weismachen wollen, sondern von jenen Rechtsextremen und Radikalkonservativen, die sich als »anti-woke« verstehen und die lieber heute als morgen ideologisch in jene armselige Zeit zurückkehren wollen, in der die (weiße heterosexuelle) Frau am Herd stand und Kinder gebar, während der (weiße heterosexuelle) Mann ihr die Welt mansplainte.
Dennoch sieht und thematisiert Balzer auch die Dummheiten des woken, queeren und postkolonialen, sich selbst als »progressiv« und emanzipatorisch begreifenden Milieus, etwa dessen groteske Neigung zu Simplifizierung, Essenzialisierung und zum Schwarz-Weiß-Denken, seine Idee von »in sich abgeschlossenen, homogenen Kulturen« (und das ist nicht die einzige Idee, die das Milieu mit der nationalistischen neuen Rechten teilt), seine Selbstgerechtigkeit und »moralisierende Selbstüberhöhung« sowie seine weitgehende Unfähigkeit zu Selbstreflexion oder gar Selbstkritik.
Er beschreibt die Denkfehler dieser Leute und benennt sie auch: den Pakt mit (ausgerechnet) dem politischen Islam, die »unreflektierte Feier des Indigenen« und die romantische »Faszination für Erzählungen von Ursprünglichkeit und Authentizität«, die mit der historischen Realität nichts zu tun haben.
Dennoch will Balzer das postkoloniale Milieu rehabilitieren, versucht also, das einst Fortschrittliche an der Idee der »Wokeness« hervorzuheben (»sie zielt auf Teilhabe und Gerechtigkeit und auf eine gelingende Verständigung zwischen Menschen«), dem Milieu sozusagen mithilfe von Jürgen Habermas’ Diskursethik (»herrschaftsfreier Diskurs«) und der Beschwörung, doch bitteschön wieder zur Vernunft zu kommen, das Autoritäre, Fanatische und Sektenhafte auszutreiben. Ich sag’s mal so: Ich glaube derzeit nicht daran, dass das gelingen kann. Aber ich bin auch Pessimist.
Jens Balzer: »After Woke«, Matthes & Seitz, geb., 105 S., 12 €.
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