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Komm rein und schau mich an

Welche Macht hat mein Arbeitsplatz? Die Ausstellung »Postures / Haltungen« frei nach August Sander in Berlin

Menschen des 21. Jahrhunderts, die im Centre Pompidou arbeiten und die an August Sanders »Menschen des 20. Jahrhunderts« erinnern: Lieferant für die Automaten (nach Sanders »Konditor« von 1928) und Sicherheitsmitarbeiter (nach »Zöllner« von 1926)
Menschen des 21. Jahrhunderts, die im Centre Pompidou arbeiten und die an August Sanders »Menschen des 20. Jahrhunderts« erinnern: Lieferant für die Automaten (nach Sanders »Konditor« von 1928) und Sicherheitsmitarbeiter (nach »Zöllner« von 1926)

Das Centre Georges Pompidou in Paris sieht immer noch aus wie ein Raumschiff. Herbeigeflogen aus den entspannten 70er Jahren, als Kunstausstellungen noch demokratische Angebote zum Anschauen und Weiterdenken sein sollten und keine teuren Events. Das Centre ist bunt, verspielt und postmodern auf die gute Art: Die wichtigen Leitungen laufen außen am Gebäude, das schafft innen mehr Platz und man kann mit einer Außenrolltreppe hochfahren. Es ist zwar sehr groß, aber nicht so hoch – man sieht es erst, wenn man davor steht. Als würde das Gebäude freundlich sagen: »Komm rein und schau mich an.«

Zurzeit ist ein Teil des Centre zu Besuch im FMP 1 in Berlin. Dieses Veranstaltungs- und Bürogebäude, in dem auch die Redaktion des »nd« sitzt, stammt ebenfalls aus den 70er Jahren und ist gleichfalls nicht unberühmt, früher hatte die Zeitung das gesamte Haus auf sechs Etagen. Heutzutage ist es viel offener und lockerer und präsentiert unter anderem wechselnde Ausstellungen zum Anschauen und Weiterdenken, in viel kleinerem Maßstab als das Centre Pompidou, aber kostenlos.

Gegenwärtig ist die Ausstellung »Postures / Haltungen« zu sehen. Es sind Porträtaufnahmen von Mitarbeitern des Centre Pompidou, inspiriert von Porträtaufnahmen von August Sander (1876–1964), dem Begründer der dokumentarischen Fotografie in Deutschland. Aus seinem kommerziellen Kölner Fotostudio heraus fuhr er durch die Lande, um die »Menschen des 20. Jahrhunderts« zu fotografieren. Quer durch alle Milieus und Klassen, vom Bürgertum bis zum Proletariat. Seine Porträts sind von bleibendem soziologischen Wert, um Habitus und Kontext, vor allem der 1920er Jahre, zu verstehen.

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2022 gab es im Centre Pompidou eine Ausstellung über diese Zeit in Deutschland mit dem Schwerpunkt Neue Sachlichkeit und August Sander. Florian Ebner, der Kunsthistoriker und Leiter der fotografischen Sammlung des Centre, hatte die Idee, Sanders Menschen des 20. Jahrhunderts mit dem 21. Jahrhundert in Beziehung treten zu lassen, bekam dafür aber nicht die Fotorechte für die Originale. Deshalb ließ er sie zusammen mit dem Fotografen Andreas Langfeld nachstellen – als Einzel- oder Gruppenbilder von den Mitarbeitern des Centre Pompidou auf allen Ebenen, von der Putzkraft über das Aufsichtspersonal, die Buchhaltung, die Kuratoren bis hin zu Renzo Piano, einem der Architekten des Centre. Er hat einen grünen Filzstift in der Hand, weil er mit so einem Filzer vor langer Zeit die allerersten Entwürfe des Centre aufzeichnete.

Die meisten Porträtierten werden kurz und prägnant zitiert, über ihr Leben, ihre Arbeit und ihre Ideen. Ein Archivar sieht sich als »Schleuser der Erinnerung«, ein Feuerwehrmann meint, »Kunst ist überall und alles ist Kunst« und eine Bibliothekswissenschaftlerin betrachtet ihre Arbeit als »Keilriemen einer fröhlichen, unruhigen Wissenschaft«. Manche zitieren auch andere Quellen, zum Beispiel den Anarchisten Peter Kropotkin (der von drei Kuratoren angeführt wird, die sich nicht als »Führer«, sondern als »Kampfesgenossen« der Massen begreifen wollen) oder Aristoteles (von den Mitarbeitern der Filmsammlung) oder Yoko Ono (von einem Bibliothekar). Eine kleine Minderheit lässt sich fotografieren, ohne etwas zu sagen, das sind Köche, Kellner, Projektmanager, Juristen und die Direktorin der Verwaltung.

Alle werden an ihrem Arbeitsplatz fotografiert, mit und ohne Posen. Zusätzlich gibt es eine Obdachlose und ein paar Straßenmusiker vor dem Centre (wo Obdachlose besser toleriert werden als im sonstigen Paris). Wie bei Sander geht es sozial quer durch die Gesellschaftsschichten, mit interessanten Fallhöhen. Um diese Positionierung besser zu begreifen, empfiehlt sich der einleuchtend gestaltete Katalog zur Ausstellung, denn darin wird jedem Porträt ein Original-Sander-Foto auf der anderen Seite gegenübergestellt, aber nur als Titel ohne Bild, weil dazu die Rechte nicht vorliegen. Das hat etwas sowohl Ernstes als auch Spielerisches. Die Porträtierten zeigen und deuten ihren Job, situativ wie historisch, etwa, wenn der heutige Kunstvermittler mit dem »Herrn Lehrer« von Sander kontrastiert wird oder die Leiter des Reinigungsdienstes mit Sanders »Gasmännern«. Die Chefin der Aufsicht wird als Klimaaktivistin ausgewiesen und hält ein klassenkämpferisches Transparent in die Kamera, bei Sander hieß das Foto »Demonstration der Roten Front«. Sie sagt: »Anstatt in meiner Ecke über das Schicksal der Unterdrückten zu hadern, handele ich dort, wo ich kann.«

Die Bilder wirken erst mal unspektakulär, können aber vielfältige politische Bezüge entwickeln: Wer ist abgebildet? Wie wird sich verstanden? Was hat das mit der Gesellschaft zu tun? Welche Macht hat ein Arbeitsplatz? Was kann überhaupt ein Foto? Bei Bedarf sollte man die Original-Sanders suchen gehen. Muss aber nicht sein: Gerade ihre Abwesenheit steigert die persönliche Vorstellungskraft. So ist das immer mit sozialer Fantasie. Eine sehr gute Ausstellung.

»Postures / Haltungen. Menschen des Centre Pompidou – nach August Sander«, bis 31.10. FMP 1, Franz Mehring Platz 1, Berlin, täglich 9-20 Uhr. Katalog für 34 € bei Spector Books, Leipzig

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