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Pflegefamilien: Ein neuer Heimathafen
In Berlin leben 2000 Kinder bei Pflegefamilien. Die ersten Wochen des Zusammenlebens sind dabei oft die schwierigsten
Die letzten Zweifel, die Antje Kuhl noch hatte, verfliegen, als Mustafa ihr in der Auffahrt entgegenkommt. »In dem Moment, in dem ich gesehen habe, wie er sich freut, uns zu sehen, habe ich gedacht: Alles kein Thema mehr, wir machen das jetzt zusammen«, erinnert sie sich. Nur wenige Wochen lebt der zu dieser Zeit 13-jährige Mustafa da gerade bei Kuhl und ihrem Ehemann Ralf Ludwig. Nicht alles sei zu Beginn einfach gewesen, sagt Kuhl. In einem Urlaub zu zweit haben sie viel darüber nachgedacht, wie es in Zukunft weitergehen wird, Mustafa lebt für diese zwei Wochen wieder im Heim. Doch als Mustafa ihnen beim Abholen mit großen Augen entgegenrennt, gibt es keine Skepsis mehr.
Mustafa kommt 2016 aus Syrien nach Deutschland. Drei Wochen lang dauerte die Flucht, erinnert er sich. Mustafa muss als Nichtschwimmer auf einem maroden Schlauchboot einen Fluss bei starkem Wellengang überqueren und tagelang bei teils eisiger Kälte durch schwieriges Gelände marschieren – obwohl er seit der Geburt ein verkürztes Bein hat, eine Orthese tragen muss. »Ich habe gelernt, mutig zu sein«, sagt der heute 21-Jährige über die Odyssee. In Deutschland angekommen durchläuft er zunächst eine Unterkunft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, dann kommt er in ein provisorisches Heim in Brandenburg. Als das Heim aufgelöst werden soll, kommt eine Betreuerin in das Zimmer, das er sich mit sieben anderen Kindern teilt. Er könne in ein neues Heim ziehen oder zu einer Pflegefamilie kommen, stellt sie ihn vor die Wahl. Mustafa überlegt nicht lang.
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In Berlin gibt es etwa 2000 Kinder, die in Pflegefamilien untergebracht sind. Ihnen stehen 6000 Kinder gegenüber, die in Kinderheimen leben. Es wird zwischen der sogenannten Pflegebereitschaft, die Inobhutnahmen von maximal einem Jahr umfasst, und dauerhaften Pflegefamilienverhältnissen, die bis zur Volljährigkeit des Pflegekinds andauern, unterschieden. Seit mehreren Jahren beobachten die Jugendämter ein rückläufiges Interesse potenzieller Pflegeeltern.
In vielerlei Hinsicht ist Mustafas Geschichte ungewöhnlich für Pflegekinder in Berlin. Im Regelfall werden sie vor Beginn der Pubertät vermittelt, teilweise schon im Säuglingsalter. Auch wenn in den vergangenen Jahren vermehrt unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in das System gerutscht sind, ist die große Mehrheit der vermittelten Kinder in Deutschland geboren. Oft in ausgesprochen schwierigen Verhältnissen: Viele Pflegekinder haben in ihren Ursprungsfamilien Gewalt und Missbrauch erfahren. Andere sind komplett verwahrlost, wenn das Jugendamt sie in Obhut nimmt, etwa weil die Eltern mit psychischen Krankheiten oder Suchtproblemen kämpfen.
Kuhl und Ludwig sind über einen Zeitungsartikel auf das Thema Pflegekinder aufmerksam geworden. Ihr leiblicher Sohn ist zu dieser Zeit gerade ausgezogen. »Sein Zimmer stand frei«, sagt Kuhl. Bei einer Alpenwanderung überlegen sie intensiv darüber, ob sie selbst ein Pflegekind aufnehmen wollen. »Jeder ist ein Stück des Weges alleine gegangen und ist in sich gegangen«, sagt Ludwig. »Alle Beteiligten müssen es uneingeschränkt wollen, das war uns immer klar.« Als sie in Meran ankommen, steht die Entscheidung für ein Pflegekind fest. Ein bisschen, sagt Ludwig im Rückblick, seien die Jahre danach eine eigene Gipfelerklimmung gewesen.
Ein halbes Jahr lang besuchen sie Interessentenrunden und Vorbereitungskurse. Den »kleinen Pflegeelternführerschein« nennt Ralf Ludwig diese Vorbereitungsphase. Sie müssen ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis vorlegen und ihre Finanzen sowie ihr soziales Umfeld offenlegen. Das erste Treffen zum Kennenlernen mit Mustafa findet in einer Pizzeria statt. »Welches Auto fahrt ihr?«, war seine erste Frage, erinnert sich Mustafa heute und lacht. »In Syrien sind Autos das, was man mit Deutschland verbindet.«
»Die ersten Wochen sind meistens die schwierigsten«, sagt Susanne Litzel von der Organisation Allianz für Pflegekinder. Viele Pflegekinder klammerten noch an ihren Ursprungsfamilien, obwohl sie dort Gewalt oder Vernachlässigung erfahren haben. »Irgendwo alleine hingehen, wo man niemanden kennt, oft in eine neue Stadt, das ist für sie eine Horrorvorstellung«, sagt Litzel. Die erste Zeit sei häufig von schweren Konflikten geprägt. »Viele Pflegekinder haben das Gefühl, dass sie Liebe nicht verdienen«, so Litzel. Sie brächten nach Jahren des Missbrauchs ein geringes Selbtwertgefühl mit. Häufig weisen sie Entwicklungsverzögerungen auf, können etwa im Alter von fünf oder sechs Jahren noch nicht richtig sprechen. Auf der anderen Seite fühlten sich viele Pflegeeltern in dieser Phase überfordert. »Es gibt viele Abbrüche«, sagt Litzel.
Große Konflikte können Mustafa und seine neue Familie vermeiden. »Spülmaschine ausräumen, Zimmer aufräumen, Fernsehzeiten« seien die größten Streitthemen gewesen, sagt Kuhl. »Ganz normal, wie überall anders auch.« Dabei spricht Mustafa zu dieser Zeit noch kaum ein Wort Deutsch. Der Google-Übersetzer muss einspringen – »oder die Verständigung mit Händen und Füßen«, sagt Ralf Ludwig. Doch Mustafa lernt schnell. »Ich habe mich mit in die Küche gesetzt und versucht, mitzureden«, sagt er. Erst Begriffe, dann Fragen und am Ende ganze Sätze habe er so gelernt. »Irgendwann ist er sogar richtig sauer geworden, wenn ich sein gebrochenes Deutsch nicht richtig verstanden habe«, sagt Ralf Ludwig.
Im Unterschied zu einer Adoption verbleibt bei Pflegekindern das Sorgerecht oft weiter bei den leiblichen Eltern. Sie müssen bei Entscheidungen wie der Auswahl der Schule gefragt werden und haben ein Besuchsrecht. »Im Alltag kann das sehr kompliziert werden«, sagt Susanne Litzel. Die leiblichen Eltern seien häufig schwer zu erreichen oder könnten nicht an der Entscheidung für eine Schule mitwirken, weil sie etwa in einer anderen Stadt leben. Haben die Pflegekinder in ihrer Ursprungsfamilie Gewalt erfahren oder sind so jung in die Pflegefamilie gekommen, dass sie kaum noch Erinnerungen an ihre leiblichen Eltern haben, könnten die Besuchstage für sie schwierig sein. »Man muss die Kinder dann trotzdem zu dem Besuch zwingen«, sagt Litzel.
Mustafas leibliche Eltern leben noch immer in Syrien, als er bei Ralf Ludwig und Antje Kuhl aufgenommen wird. »Mustafa wurde glücklicherweise nicht ferngesteuert«, sagt Ludwig. Mithilfe eines Übersetzers gibt es aber regelmäßige Telefonate zwischen den zwei Familien, auch um die Behandlung von Mustafas Behinderung zu besprechen. »Mustafas Vater hat da mal zu mir gesagt: Er ist jetzt bei dir. Was du entscheidest, ist richtig«, erinnert sich Ludwig.
»Viele Pflegekinder haben das Gefühl, dass sie Liebe nicht verdienen.«
Susanne Litzel Allianz für Pflegekinder
2019 können die Eltern gemeinsam mit zwei von Mustafas Geschwistern über den Familiennachzug nach Deutschland kommen. Für eine schon volljährige Schwester übernehmen Ludwig und Kuhl später eine Bürgschaft, damit auch sie nachziehen kann. Mustafa zieht daraufhin zu seiner Familie – zunächst in einer temporären Unterkunft, später in eine Sozialwohnung in Charlottenburg. Drei Jahre hat er zu diesem Zeitpunkt bei der Pflegefamilie gelebt. »Unsere Mission war dann erstmal beendet«, sagt Antje Kuhl.
»Die Erziehung in den Pflegefamilien steht und fällt mit der Begleitung durch die Jugendämter«, sagt Verbandssprecherin Litzel. Viele Pflegeeltern stünden vor einem schwer durchdringbaren Bürokratie-Dschungel. Häufig sei etwa unklar, ob das Jugendamt am Wohnort der leiblichen Eltern oder das Jugendamt im Bezirk der Pflegeeltern zuständig sei. »Die Pflegeeltern verunsichert das«, sagt Litzel. Im Regelfall sollen Pflegeeltern und Jugendamt alle zwei Monate zu einer Besprechung zusammenkommen, dazu kommen Hausbesuche.
»Pflegefamilien können nicht immer auf Augenhöhe mit den Jugendämtern agieren«, sagt auch Marianne Burkert-Eulitz, familienpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus. »Es fehlt noch zu oft an Wertschätzung.« Ein Problem sei, dass in unterschiedlichen Jugendämtern auch verschiedene Philosophien vorherrschten: Manche drängen darauf, dass das Pflegekind wieder zu den leiblichen Eltern zurückkehren kann, andere streben dagegen einen dauerhaften Verbleib in den Pflegefamilien an. Bei einem Wohnortwechsel könne dies zu einem Problem werden. »Die Kinder wissen dann nicht, ob sie in der Familie bleiben können«, sagt Burkert-Eulitz. Das verschärfe bestehende Bindungsschwierigkeiten.
Susanne Litzel wünscht sich daher, dass Pflegeeltern nach einer Zeit eine feste Zusage dafür bekommen, dass das Pflegekind dauerhaft bei ihnen bleibt. »Adoption light« nennt sie dieses Modell. Auch Marianne Burkert-Eulitz wünscht sich mehr Verbindlichkeit, gibt aber auch zu bedenken, dass nicht alle Pflegefamilien die beste Unterbringungsmöglichkeit sind. Ihr schwebt ein Modell vor, das im US-amerikanischen Bundesstaat Kalifornien praktiziert wird. Dort erhalten Eltern, deren Kinder in Obhut genommen wurden, zwei Jahre Zeit für einen »Turn-around«. Können sie danach noch immer keine sicheren Familienverhältnisse garantieren, bleibt das Kind dauerhaft in der Pflegefamilie.
Familiensenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) – die selbst ein Pflegekind hat – erklärte Pflegefamilien zu Beginn ihrer Amtszeit im vergangenen Jahr zum »Herzensthema«. Zuletzt brachte sie eine Erhöhung des Zuschusses, den Pflegefamilien erhalten, auf den Weg. Die Pauschale, die Pflegeeltern erhalten, soll von 300 auf 420 Euro steigen. Dazu kommt ein individueller Zuschuss, der sich an den Bedarfen des Pflegekinds orientiert. Für eine Zehnjährige mit erhöhtem Förderbedarf steigt der Satz etwa von 670 auf 846 Euro, wie aus einer Aufstellung der Familiensenatsverwaltung hervorgeht. »Das macht sich bei den Familien bemerkbar«, sagte Günther-Wünsch im August. Weil Pflegeeltern kein Elterngeld erhalten, will sie zudem eine Bundesratsinitiative auf den Weg bringen, um Pflegeeltern einen »Startbonus« von etwa 1000 Euro zur Verfügung zu stellen.
Die Grünen-Abgeordnete Mariann Burkert-Eulitz hält das für unterstützenswert. »Die Sätze sind seit 2012 nicht mehr angehoben worden – obwohl Verbände immer wieder auf die Finanzlücke hingewiesen haben«, sagt sie. Die höheren Sätze würden den gestiegenen Lebenshaltungskosten Rechnung tragen und auch finanziell weniger gut gestellten Familien ermöglichen, ein Pflegekind aufzunehmen. »Das ist aber nur der einfachste Baustein«, gibt sie aber zu bedenken. Bürokratische Herausforderungen für Pflegeeltern blieben weiter.
Für Antje Kuhl und Ralf Ludwig ging es nie um das Geld. »Wir konnten es uns finanziell leisten, das war kein Thema«, sagt Ludwig. Willkommen war die Unterstützung trotzdem, auch weil sie auf die Rente angerechnet wird. Dass das Pflegegeld erhöht wird, finden sie richtig. Denn so würde das Modell für mehr Familien attraktiv. »Plätze in Kinderheimen sind um ein Vielfaches teurer«, sagt Kuhl. Dort müssten Erzieher und andere Betreuer bezahlt werden und die Heimbetreiber riefen exorbitante Preise auf.
Für Mustafa war eine andere Unterstützung wichtiger: Mit einem Stipendium konnte er eine Privatschule in Kleinmachnow besuchen. Von der Willkommensklasse, die er zuvor besuchte, fühlte er sich unterfordert. Die Unterrichtssprache an der von vielen Diplomatenkindern besuchten Schule ist Englisch. »Ich hatte gerade erst Deutsch gelernt und jetzt die nächste Sprache – das war eine ziemliche Umstellung«, sagt er. Auf der Schule erhält er eine intensive Förderung. Als er im vergangenen Jahr das IB-Diploma, eine Art internationales Abitur, macht, kommen sowohl seine leiblichen Eltern als auch seine ehemaligen Pflegeeltern zu der Abschlussfeier.
Fragt man Mustafa heute, wie er seine Zeit bei seinen Pflegeeltern erlebt hat, antwortet er nach kurzem Überlegen: »Es war das, was ich gebraucht habe. Eine Familie.«
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