Gesine Lötzsch: »Das Schlimmste ist die Arroganz«

Linke-Politkerin Gesine Lötzsch über den Aufbruch vor 35 Jahren in der DDR und enttäuschte Erwartungen nach der Vereinigung

  • Interview: Karlen Vesper
  • Lesedauer: 11 Min.
Ende der DDR – Gesine Lötzsch: »Das Schlimmste ist die Arroganz«

Frau Lötzsch, wie haben Sie den Umbruch in der DDR vor 35 Jahren erlebt und empfunden? Befreiend oder auch beängstigend?

Sowohl als auch. Ich hatte Freunde im Westen, die mir damals neidvoll sagten: »Oh, bei euch passiert etwas, bei uns nichts.« Ja, anfangs gab es große Euphorie, eine mitreißende Aufbruchstimmung, die allerdings mit dem Fall der Mauer allmählich kippte. Ich erinnere an den 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz, da wurde noch von einer Reformierung des Sozialismus gesprochen. Und auch der Aufruf »Für unser Land« vom 26. November, initiiert von prominenten Künstlern und Intellektuellen und unterzeichnet von mehr als 200 000 DDR-Bürgerinnen und -Bürgern, plädierte für eine eigenständige DDR als »sozialistische Alternative zur Bundesrepublik«. Doch dann wurde aus der Losung »Wir sind das Volk« ganz schnell der Ruf »Wir sind ein Volk«. Und da tauchte natürlich die Frage auf, wohin entwickelt sich das jetzt alles. Aufkeimende existenzielle Ängste waren nicht unberechtigt, wie sich bald zeigen sollte.

Was heute gern vergessen wird: Die Opposition, Bürgerrechtler der ersten Stunde und die Menschen, die im September und Oktober 89 auf die Straßen gingen, hatten keineswegs die sogenannte Wiedervereinigung im Sinn, sondern wollten mündige Bürger in einem freien, offenen Land sein.

Mit der Aktion »Kein Anschluss unter dieser Nummer«, womit der Beitritts-Paragraf 23 des Grundgesetzes gemeint war, wurde noch versucht, Voraussetzungen für eine gleichberechtigte Vereinigung zu schaffen, was sich mit dem überraschenden Wahlsieg der von Kohl dirigierten Allianz für Deutschland am 18. März 1990 erledigt hat. Die SPD hatte geglaubt, die Wahlen in der DDR spielend leicht zu gewinnen. Ein fulminanter Irrtum.

Interview
Inga Haar

Gesine Lötzsch, wenige Tage vor dem Mauerbau 1961 in Berlin als Tochter von Bibliothekaren geboren, studierte und promovierte an der Humboldt-Universität und entschied sich im Jahr der deutschen Vereinigung für die PDS in die Politik zu gehen. Nach 35 Jahren parlamentarischer Arbeit wird sie zur bevorstehenden Bundestagswahl, obwohl stets eine Gewähr für ein Direktmandat, nicht wieder antreten, der Partei aber mit ihren Erfahrungen treu bleiben. Gesine Lötzsch spricht auf der Friedensdemonstration am 3. Oktober in Berlin.

Und es kam, wovor viele gewarnt hatten: Statt sich selbstbewusst in die Gestaltung eines vereinten Deutschlands einbringen zu können, wurde der DDR-Bevölkerung ein System übergestülpt, dass ihnen mehrheitlich Arbeitsplätze und Lebensperspektiven raubte und zu Bürgern zweiter Klasse degradierte.

Ich hatte großes Glück, dass ich meine Ausbildung abgeschlossen hatte, mit Diplom und Dissertation. Was allerdings nach dem Beitritt auch keine Gewähr war. Mein damaliger Chef an der Humboldt-Universität, Mitglied von der Ost-CDU, sagte zu mir eines Tages: »Ich hatte gedacht, dass meine Kollegen aus dem Westen jetzt eng mit mir zusammenarbeiten wollen, muss aber feststellen: Die wollen nur meinen Lehrstuhl.« Ein weltgewandter Wissenschaftler, der viele internationale Kontakte hatte und zu DDR-Zeiten bis nach Indien gereist war.

Wie hat es Sie in die Politik verschlagen? Sie hatten doch einen schönen, gewiss ruhigeren Job an der Humboldt-Universität.

Na ja, so ruhig ging es da auch nicht zu. Abgesehen von den vielen aufregenden, hitzigen politischen Debatten – als die Mauer fiel, wurde ich mit Semesterarbeiten überschüttet, die ich zu kontrollieren und zu bewerten hatte.

Tatsächlich hatte ich damals nicht geahnt, dass ich gänzlich in die Politik wechsle. Ich bin im Frühjahr 1989 vom Kulturbund der DDR, der 1945 bis 1958 den inzwischen vergessenen, schönen Beinamen »zur demokratischen Erneuerung Deutschlands« trug, gefragt worden, ob ich mit dessen Mandat zu den Kommunalwahlen antreten würde. Der Kulturbund war nicht nur ein Numismatiker- oder Philatelistenverein. Gegründet unter anderem von Johannes R. Becher und Gerhart Hauptmann, gehörten ihm so prominente Schriftsteller wie Anna Seghers, Viktor Klemperer, Arnold Zweig und Christa Wolf an. In ihm waren an die 300 000 DDR-Bürgerinnen und Bürger engagiert. Ich empfand es als eine Ehre. Was ich nicht wissen konnte, dass nun ausgerechnet diese Kommunalwahlen so unrühmlich in die Geschichte eingingen. Ich bin für Lichtenberg angetreten …

… dem Wahlbezirk, dem Sie bis heute treu geblieben sind. Der Kulturbund hatte übrigens auch eine eigene Fraktion in der Volkskammer. Und ist in ostdeutschen Ländern noch heute aktiv.

Damals konnte ich meine Abgeordnetentätigkeit noch mit meiner beruflichen Tätigkeit verbinden. Das war ab 1991, als ich dem Gesamtberliner Abgeordnetenhaus für die PDS angehörte, nicht mehr möglich, weshalb ich von der Uni beurlaubt wurde.

Ein mittlerweile 23-jähriger »Urlaub«, da Sie seit 2002 ununterbrochen in den Deutschen Bundestag gewählt wurden.

Mein Mann und ich waren angesichts des Ergebnisses der von den Westparteien und Westmedien beeinflussten Volkskammerwahlen vom 18. März 1990 völlig fassungslos und waren nach diesem Schock entschlossen, politisch aktiver zu sein. Dass meine politische Laufbahn so lange währt, war nicht in meiner Lebensplanung vorgesehen.

Wie haben Sie die Vereinigung auf kommunaler Ebene in Berlin erlebt?

Es wurde damals ein gemeinsamer Ausschuss der beiden Stadtparlamente für die Vereinigung von Ost- und Westberlin gebildet. Wir waren von der PDS mit fünf Abgeordneten dabei, von A wie Adolphi bis Z wie Zotl, wie wir damals witzelten. Unser erstes Treffen hatten wir im Rathaus Schöneberg, das war noch vor der Währungsunion. Die Kollegen von der SPD luden uns zum Kaffee ein, da wir nur DDR-Mark in der Tasche hatten. Wir wurden platziert. Als Klaus Landowsky von der West-CDU redete, wurde schon klar, dass es nicht darum ging, sich auf Augenhöhe zu begegnen. Dabei waren wir super fleißig, haben noch eine neue Berliner Verfassung ausgearbeitet. Nach dem 2. Dezember 1990, der vorgezogenen Bundestagswahl, mit der sich Kohl zum Kanzler aller Deutschen küren konnte, wurde alles, was wir in den Monaten zuvor diskutiert und beschlossen hatten, einfach weggewischt.

Was ist diskutiert worden?

Alles Mögliche. Ob der DDR-Führerschein anerkannt werden könne, beispielsweise. Das war schnell vom Tisch. Die Autofahrer wollte man nicht verärgern. Aber hinsichtlich der Anerkennung der Lehrerdiplome aus der DDR stellte man sich erst einmal quer. Lehrerinnen und Lehrer mit jahrzehntelanger Praxiserfahrung sollten ihre Befähigung erst erneut unter Beweis stellen. Das war sehr demütigend. Unterstufenlehrer, heute Grundschullehrer genannt, konnte man in der DDR auch ohne Abitur werden. Und obwohl sie, lang gedient, an ihren Schulen auch an der Ausbildung von Pädagogikstudenten mitgewirkt hatten, wurden sie heruntergestuft und haben ganz wenig verdient. Solche Beispiele gibt es viele. Wenn wir etwas zu ändern versuchten, hieß es immer: »Geht nicht.« Wir haben natürlich nachgefragt: Warum nicht? »Wegen Beamtenrecht.« Dann müssen wir das ändern. Geht nicht. Wo steht das geschrieben? Und so weiter … Wir sind drangeblieben, haben ein Gutachten in Auftrag gegeben. Und siehe da: Es ging. Wir haben schließlich eine bessere Bezahlung der Grundschullehrerinnen erreicht. So viel dazu, dass man nie aufgeben darf.

Haben Sie es als emanzipierte Frau aus dem Osten im männerdominierten Bundestag schwerer gehabt als Ihre männlichen Fraktionskollegen?

Auch das Berliner Abgeordnetenhaus war ziemlich männerdominiert. Ich war entschlossen, mich nicht einschüchtern, mir nicht die Butter vom Brot nehmen zu lassen.

Ich kann mich an Zwischenrufe entsinnen wie: »Die soll erst mal richtig kochen lernen.« Oder: Als wir im Abgeordnetenhaus unsere konstituierende Versammlung hatten, tuschelten Leute von der Verwaltung: »Die kann ja schreiben, keine orthografischen Fehler und gut formuliert.« Solche primitiven Äußerungen machen es einem natürlich leicht, dagegenzuhalten. Ja, auch wir Ostdeutschen können mit Messer und Gabel umgehen und können mehr als nur buchstabieren.

Auffallend war und ist, dass gerne über die Unzulänglichkeiten in der DDR oder in Ostdeutschland gesprochen wird, um nicht über die Unzulänglichkeiten im Westen sprechen zu müssen. Kurz vor der Maueröffnung konstatierte der damalige Vorsitzende des Wissenschaftsrates, der Rechtshistoriker Dieter Simon: »Das westdeutsche Hochschulsystem ist im Kern verrottet.« Als die wissenschaftlichen Institutionen der DDR abgewickelt oder von westdeutschen Honoratioren übernommen wurden, pries man das bundesdeutsche Modell als haushoch dem ostdeutschen überlegen. Da gab’s keine Diskussionen mehr.

Im ersten Deutschen Bundestag vor 75 Jahren waren 38 Frauen, neun Prozent der Abgeordneten, weiblich; deren Zahl sank im Laufe der Jahre, gerade zur Zeit der Kanzlerschaft von Willy Brandt, auf 5,8 Prozent und stieg erst in den End-Achtzigern auf 9,8. In der ersten Volkskammer 1949 gab es 111 Frauen, 23 Prozent, und zu Ende der DDR 32 Prozent. Sind Sie mit 30 Prozent Frauenanteil im heutigen Bundestag zufrieden?

Natürlich nicht. Der Frauenanteil ist in den Fraktionen sehr unterschiedlich, den geringsten hat die AfD aufzuweisen. Das sollte Wählerinnen zu denken geben. Andererseits garantiert Frau-Sein nicht automatisch die allerbeste Politik. Ich fand es übrigens etwas irritierend, dass ausgerechnet bei einer Abstimmung im Bundestag über Gleichstellung 2005 zahlreiche SPD-Abgeordnete den Saal verließen.

Es geht oft ziemlich rau im Bundestag zu. Wie verträgt man verbale Angriffe, aggressive Zwischenrufe? Haben Sie sich einen Panzer zugelegt?  

Nein, einen Panzer habe ich nicht. Und eigentlich bin ich ein großer Freund von Zwischenrufen. Wenn es keine Zwischenfragen gibt, komme ich mir vor, als wenn ich gegen eine Wand rede. Zwischenfragen verlängern auch die Redezeit, denn die wird angehalten, wenn man unterbrochen wird. Zwischenfragen steigern die Aufmerksamkeit. Deshalb haben sich einige Fraktionen auch mal dahingehend verständigt, den Linken keine Zwischenfragen zu schenken. Das hielten sie aber nicht durch.

Natürlich ist es nicht angenehm, wenn – wie es mir bei meiner ersten Rede zum Haushalt 2005 erging –, ganze Fraktionen den Saal verlassen. Angela Merkel, damals CDU-Vorsitzende, kehrte mir demonstrativ den Rücken zu und unterhielt sich laut mit Volker Kauder, Vorsitzender der Unionsfraktion. Sie wurde immerhin vom damaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert verwarnt. Am schlimmsten aber war unsere Zwei-Frauen-Zeit, als Petra Pau und ich mit unseren Direktmandaten allein im Bundestag waren, weil die PDS an der Fünf-Prozent-Klausel gescheitert ist. Wir hatten anfangs weder Tisch noch Mikrofone, eine stark begrenzte Redezeit und mussten noch etliche andere Schikanen über uns ergehen lassen.

Sie dürften mit der Anzahl Ihrer Direktmandate einen Rekord im Bundestag halten?

Sechs Direktmandate für den Bundestag, fünf für das Berliner Abgeordnetenhaus, also insgesamt elf.

Na, da müssen Sie doch das Dutzend voll machen. Warum wollen Sie im nächsten Jahr nicht noch mal antreten?

Nee, nee, wir haben früher gesagt: Die Alten sollen mal Platz machen. Jetzt ist es Zeit für mich, Jüngere ranzulassen. Ich werde auf jeden Fall meine Nachfolgerin Ines Schwerdtner in ihrem Wahlkampf mit allen Kräften unterstützen.

Also kein Rückzug ob der desolaten Situation der Linken?

Nein.

Gehen Sie zurück in die Wissenschaft?

Kein Kommentar. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen sich Gedanken machen, was ich nach dem Ende meiner Politikkarriere machen könnte oder sollte.

Okay, andere Frage: Was ist das Geheimnis Ihrer Direktmandate?

Die Arbeit im Bundestag mit der vor Ort verbinden. Für mich war es immer wichtig, zu allen Menschen und in alle gesellschaftliche Bereiche Kontakt zu halten, Rede und Antwort zu stehen, Unterstützung anzubieten oder Hilfe zu vermitteln. Jedes Jahr halte ich in einer Schule in Lichtenberg die Rede zur Einschulung, groß nachgefragt sind unsere Frauentagsfeiern, gut angekommen unsere Tanzkurse und das internationale Kochstudio. Oft ist das Gefühl von Gemeinsamkeit und Geselligkeit sehr wichtig. Eine Frau erzählte uns, dass sie vier Wochen mit niemandem hat sprechen können und dankte uns dafür. Es geht manchmal auch nur darum, Menschen aus ihrer Einsamkeit herauszuholen und Lebensmut zu vermitteln. Neben allen großen politischen Fragen. Ganz wichtig ist mir jedes Jahr am Tag der Bücherverbrennung der Nazis, am 10. Mai, unser »Lesen gegen das Vergessen«. Schriftsteller, Politiker, Künstler lesen Autoren, deren Werke 1933 verbrannt und verdammt wurden.

Ist der Osten braun, wie man heute vielfach hört?

Nein, das ist völlig falsch, eine Stigmatisierung des Ostens. Die AfD segelt unter falscher Flagge, spielt sich als Interessenvertreterin der Ostdeutschen auf, die sie nicht ist. Leider fallen viele auf sie herein. Ihr Führungspersonal stammt auch mehrheitlich aus dem Westen. Sie instrumentalisieren die Enttäuschungen der Ostdeutschen, sind rückwärtsgewandt, erinnern an düstere Zeiten deutscher Geschichte. Das müssen wir den Menschen klar machen. Ich will nicht in einem Land leben, das von Nazis regiert wird.

Fast 35 Jahre nach der Vereinigung ist das Land nicht vereinigt, sind die Unterschiede zwischen Ost und West nach wie vor eklatant.

Es ist nicht akzeptabel, dass es immer noch diese Kluft bei den Gehältern, Einkommen und Renten gibt, der Anteil Ostdeutscher in Führungspositionen marginal ist, die Intendanten an öffentlichen Rundfunkanstalten im Osten oder Rektoren ostdeutscher Universitäten westdeutscher Herkunft sind. Laut dem in der vergangenen Woche vom Ostbeauftragten der Bundesregierung vorgestellten Bericht zur deutschen Einheit hat der Anteil Ostdeutscher auf Leitungsebene sogar abgenommen. Die Ostdeutschen haben viele Brüche seit 1990 erlebt, wurden arbeitslos, mussten trotz hoher Qualifizierungen Umschulungen oder niedrig bezahlte Arbeit aufnehmen, verloren ihr Eigentum und sehen sich heute teils von Altersarmut bedroht. Das Schlimmste aber ist die Arroganz Westdeutscher gegenüber Ostdeutschen.

Gerade deshalb fragt man sich, warum die Linken bei den Wahlen jüngst in Thüringen, Sachsen und Brandenburg so schlecht abgeschnitten haben und nicht als originäre ostdeutsche Kraft ankamen.

Das ist etwas, was mich sehr bedrückt und sehr traurig macht. Der Grundfehler war die Spaltung. Ich habe versucht, sie zu verhindern, es ist mir leider nicht gelungen. Es gab ja auch einige in unserer Partei, die der Meinung waren, wenn Sahra Wagenknecht mit ihren Leuten weg ist, dann geht es mit der Linken wieder aufwärts. Ein großer Irrtum. Ein weiteres Verhängnis war, nicht genug Klarheit in der Friedensfrage gezeigt zu haben. Es gibt da zwar eindeutige Parteitagsbeschlüsse, aber manche Funktionäre haben zwiespältige Botschaften in der Öffentlichkeit ausgesandt. Und drittens haben wir es in den vergangenen Jahren offenbar nicht geschafft, die Menschen zu überzeugen, dass wir ihre Interessen vertreten, insbesondere eben auch der Ostdeutschen. Es war ein Fehler, Ostdeutschland zu vernachlässigen. Da haben wir unsere ursprüngliche Klientel vor den Kopf gestoßen. Jetzt müssen wir sehen, wie wir uns aus dem Tief wieder herausarbeiten. Frieden, soziale Gerechtigkeit und die Vision einer besseren Gesellschaft sind nach wie vor aktuell. Und dafür braucht es eine starke Linke.

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