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- Lofi-Electro-Surf-Pop
Auch allein genial: Brezel Göring
Die Musiktherapie hat angeschlagen: »Friedhof der Moral«, das neue Album von Brezel Göring
Die CD der Woche. Weitere Texte unter dasnd.de/plattenbau
Der Schock saß tief, als die deutsch-französische Musikerin Françoise Cactus nach schwerer Krankheit im Februar 2021 verstarb. Knapp 30 Jahre lang war sie Teil des Berliner Duos Stereo Total, das sie 1993 mit ihrem Partner Brezel Göring zunächst unter dem Namen Sigmund Freud Experience gegründet hatte. Cactus war mit ihrem grenzenlos freundlichen, exaltierten Gemüt stets der alles überstrahlende Teil des Duos, Göring mit seiner schüchtern-verschrobenen Art ihr verlässlicher Backup im Hintergrund – so jedenfalls der Eindruck von außen.
Doch die beiden bedingten einander wie der Tag die Nacht, oder: wie der Analysand den Analytiker. Umso größer war vor gut zwei Jahren das Erstaunen über Görings Solodebütalbum »Psychoanalyse (Volume 2)«, das seinen freudianischen Eifer aus den frühen 90er Jahren weitersponn und zu einer der größten musikalischen Überraschungen des Jahres 2022 avancierte. Denn es unterstrich, dass Göring auch ohne seine langjährige Partnerin in der Lage war, absurd-geniale musikalische Kleinode zu kreieren.
Wobei Cactus auf dem Album dennoch omnipräsent war: Nicht nur durch das mannigfaltige Samplen ihrer Stimme, sondern auch durch die Texte, die in fast schon schmerzhaft-intimer Weise eine Art Trauerbewältigungskaskade darstellten. »Schade, dass du weg bist/ Ich hätt dir gerne noch öfter zugehört/ Die Straßen sind immer noch dieselben/ Aber der Rest ist ziemlich ramponiert«, sang Göring damals etwa im Stück »Sanfter Wahn«. Selten war Musik so anrührend wie auf diesem Album.
Die Musiktherapie von damals scheint indes angeschlagen zu haben: Zwar ist Françoise Cactus auch auf dem neuen Album »Friedhof der Moral« präsent, die Grundstimmung der neuen Songs aber ist eine gänzlich andere als auf dem Vorgänger. Statt traurig-bedrückender Chansons in Moll präsentiert der 54-jährige Musiker dieses Mal ausgelassenen, Dur-lastigen Lofi-Electro-Surf-Pop.
Wie so oft bei Göring klingen die Gitarren, als seien sie für zwei kleine Scheine auf dem Flohmarkt erstanden, und das Schlagzeug, als wäre es soeben erst vom jahrzehntealten Dachbodenstaub befreit worden. Bedroom-Pop könnte man die Musik auch nennen – nur dass sie bei Göring nicht aus Versehen, sondern bewusst so wackelnd-rumpelig klingt.
So etwa auch in der Vorabsingle »Sexuell aufgeladen«: »Meine Gedanken/ Sexuell aufgeladen/ Traurigkeit/ Sexuell aufgeladen«, heißt es darin. Im dazugehörigen Video liegt Göring sprach- und regungslos auf der Therapiecouch, während der Therapeut ihn in strengem Ton zurechtweist: »So, Herr Göring, jetzt kommen’se schon zwei Jahre hier in die Behandlung. Langsam müssen’se mir auch ma watt erzählen.« Würde der hilflose Fachmann stattdessen die Musik seines Klienten hören, er hätte sicher genug zu analysieren. In »Tschernobyl« fantasiert Göring etwa darüber, so zu sein wie Gudrun Ensslin, in »Tilidin« besingt er seinen Rausch und in »Die letzte Kugel« seinen Selbstmord.
Im Grund ist damit alles in gewohnter (Un-)Ordnung. Gut fürs Publikum, denn es wird auch mit »Friedhol der Moral« erneut fantastisch unterhalten. Und gut auch für den Analytiker, denn so schnell wird ihm die Arbeit nicht ausgehen.
Brezel Göring: »Friedhof der Moral« (Stereo Total Records/Flirt 99)
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