Anschlag in Halle: 158 Minuten

Fünf Jahre ist »Der Anschlag« her. So heißt eine Dokumentation über den rechtsextremen Terror in Halle

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Gemeindevorsitzende Max Privoroski sagt, er sei »nie sehr optimistisch gewesen, was die Situation in Deutschland betrifft«.
Der Gemeindevorsitzende Max Privoroski sagt, er sei »nie sehr optimistisch gewesen, was die Situation in Deutschland betrifft«.

Das Judentum kennt eine Vielzahl Feiertage, von denen Jom Kippur bei weitem der wichtigste ist. Am 10. des religiösen Monats Tschiri nämlich, sagt Naomi Henkel-Gümbel, werde »das Schicksal eines Jeden und Jeder fürs kommende Jahr entschieden«. Als das Fest vor fünf Jahren auf den 9. Oktober 5780 israelitischer Zeitrechnung fiel, entschied sich allerdings nicht nur Henkel-Gümbels Schicksal für die kommende Zeit, sondern das Schicksal unzähliger Menschen im ganzen Land.

Es war der Tag, an dem ein schwerbewaffneter Rechtsterrorist die Synagoge der größten Stadt Sachsen-Anhalts, in der sie gemeinsam mit 51 Gläubigen das heilige Versöhnungsfest feiern wollte, angegriffen hat. Es war der Tag, an dem auch für Christina Feist »alles anders« wurde. An dem sich »ein Riss« durchs Leben aller Betroffenen zog, »der nicht wieder zusammengeht«. Es war der Tag, an dem ganze 158 Minuten, wie ein Dokumentarfilm über den Angriff ursprünglich heißen sollte, nicht nur zwei Tote hinterließen, sondern die Welt ringsum in Trümmern.

Es war der Tag, an dem ganze 158 Minuten, wie ein Dokumentarfilm über den Angriff ursprünglich heißen sollte, nicht nur zwei Tote hinterließen, sondern die Welt ringsum in Trümmern.

Drei Teile lang zeichnet »Der Anschlag« den Terror in Halle und Wiedersdorf nach. Knapp 90 Minuten akribische Ereignisanalyse, in denen Christoph Peters und Marie Landes Menschen aller Art und Betroffenheit vor die Kamera bekamen. Dass ein paar entscheidende fehlen, dazu später mehr. Doch auch ein gutes Dutzend Zeitzeugen, die in unterschiedlichster Weise unmittelbar vom faschistischen Wahn eines zurechnungsfähigen Täters betroffen sind, zeichnet das verstörende Bild eines Feiertages, der im Blutbad endet.

Minutiös berichten Naomi Henkel-Gümbel oder Christina Feist vom Überlebenskampf hinter der Synagogen-Tür, die Stephan B.s Schüssen genau 81 Jahre und einen Monat nach der »Reichspogromnacht« wie durch ein Wunder standhielt. Eindrücklich berichtet ihr Gemeindevorsitzender Max Privoroski, wie die Eingeschlossenen durch eine Überwachungskamera ins Gesicht des Attentäters blickten, »als wenn er auf uns schießt«.

Als es heißt, zwei Amerikaner im Gotteshaus hätten die Bedrohung bereits beim allerersten Schuss erkannt, weil Amokläufe in den USA nun mal normal seien, gefriert einem das Blut schon beim Zuhören ebenso in den Adern wie nach dem Satz einer Ladenbesitzerin vom Kiez-Döner gegenüber, wo der Attentäter wahllos einen Gast erschoss. »Meine syrische Mitarbeiterin saß auf dem Boden, weil sie diese Geräusche natürlich kannte«, erzählt die Geschäftsfrau und zögert kurz: »Sie stammt aus Aleppo.«

Die Augen- und Ohrenzeugenberichte aus Halle oder 20 Autominuten davon entfernt in Wiedersdorf, wo der Attentäter zwei Menschen verletzte, gehen ungemein zu Herzen. Trotz aller Eindrücke unmittelbar Betroffener, reicht »Der Anschlag« allerdings weit über bloße Opfererzählungen hinaus. Mit ein bisschen viel Pathos, Musik und Reenactment bis hin zum stilisierten Zusammensacken des ersten Mordopfers Jana Lange, erfassen die Autoren alle Aspekte dieser Tat bis hin zum zweiten Amoklauf: den der sozialen Medien.

Sie reisen Leittragenden bis Tel Aviv oder Paris hinterher und befragen Hinterbliebene Getöteter wie den Vater des toten Malergehilfen Kevin Schwarze. Sie interviewen Ärzte und Journalisten, Extremismusforscher und Opferberaterinnen, Oberbürgermeister Bernd Wiegand und Ministerpräsident Rainer Haseloff, der diesen 9. Oktober 2019 als »dunkelste Stunde meines Lebens« bezeichnet. Sie alle reden, und oft hat man das Gefühl, es sei eine Befreiung. Wer allerdings beharrlich schweigt: Halles Polizei.

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Ausgerechnet jene Institution also, die wegen ihrer Zögerlichkeit, Versäumnisse und Kommunikationspolitik bis heute massiv in der Kritik steht, verweigern ARD und MDR verbissen die Aussage, wie es im Abspann heißt. Und so hinterlässt auch diese Dokumentation einen schalen Nachgeschmack. Kurz wird er zwar durch die enorme Solidarität in Stadt und Land, Halle und Sachsen-Anhalt gemildert. Kerzenschein und Blumenmeere, Demonstrationen und Anteilnahme überall, deuten am Ende der dreiteiligen Aufarbeitung durchaus an, dass die 158 Minuten womöglich doch etwas in Gang gesetzt hätten in den Köpfen der Menschen vor Ort. Bis man die anschließenden Wahlergebnisse betrachtet.

Ganze zwei Jahre später nämlich haben fast 17 000 Hallenserinnen und Hallenser dabei geholfen, die AfD mit 15 Prozent zur zweitstärksten Landtagspartei zu machen. Und bei der Europawahl im Frühjahr stimmten nochmals 5000 Menschen mehr für die rechtsextremen Steigbügelhalter des braunen Terrors. So sehr er das Leben aller Betroffenen bis heute beeinflusst: am Ende ändert »Der Anschlag« offenbar leider: nichts.

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