Ohne Fleisch ein Preis

Die Südkoreanerin Han Kang, Autorin von »Die Vegetarierin«, erhält den Nobelpreis für Literatur

  • Vincent Sauer
  • Lesedauer: 4 Min.
Sollen Menschen Pflanzen sein? Han Kang, die neueste Literaturnobelpreisträgerin
Sollen Menschen Pflanzen sein? Han Kang, die neueste Literaturnobelpreisträgerin

Ein blasser, hagerer Mann im schwarzen Anzug tritt aus einer Türe mit Goldornamenten und liest etwas vom Blatt. Auf Schwedisch. Nach wenigen Sekunden wird gejubelt. Kamera-Klicks, Blitzlichtgewitter. Der koreanische Name Han Kang ist gefallen. Es herrscht allgemeine Erleichterung in Stockholm und anderswo: Die diesjährige Gewinnerin des Nobelpreises im Fach Literatur ist Bestseller-Autorin und international bekannt! Han Kang ist ans Gewinnen gewöhnt.

Sie kam 1974 in Gwangju, einer südkoreanischen Metropole, auf die Welt. Ihr Vater war bereits Romancier, ihr Bruder sollte es auch werden. Han Kang studierte folgerichtig koreanische Literatur, allerdings an einer christlichen Privat-Uni in der Hauptstadt Seoul, obwohl sie buddhistisch erzogen wurde. Vor dreißig Jahren gewann sie zum ersten Mal einen großen Literatur-Wettbewerb. 1995 erschien ihr Debüt »Liebe in Yeosu«, ein Band mit Erzählungen. Es folgten Romane, Preise, Gedichte, Auszeichnungen, Essays, Lehraufträge.

Das Internet verrät, dass Han Kang als junge Studentin eine Obsession mit der einer Gedichtzeile des modernen Lyrikers Yi Sang entwickelte, die übersetzt so viel bedeutet wie: »Ich glaube, Menschen sollten Pflanzen sein.« Im Jahr 2007 veröffentlichte sie den Roman, der später ihr Durchbruch werden sollte: »Die Vegetarierin«. Er handelt von einer südkoreanischen Hausfrau, die sich dafür entscheidet, den Fleischverzehr einzustellen. Damit kommt ihr Umfeld nicht klar, ja, dieser Verzicht bringt ihren Ehemann zur Raserei. Es kommt zu äußerster Brutalität, Wahnsinn, versuchtem Selbstmord, Vergewaltigung. Ein literarischer Kunstgriff: Die Protagonistin bleibt über weite Strecken des Romans stumm, erzählt wird aus der Perspektive anderer. Das koreanische Publikum mochte das Buch anfänglich nicht sonderlich.

Auch Jon Fosse, Nobelpreisträger 2023, erkundet, respektive suhlt sich in seinen Romanen und Stücken in den Untiefen der menschlichen (männlichen?) Seele. Annie Ernaux, die im Jahr zuvor ausgezeichnet wurde, ist als Ethnografin ihrer selbst, ihrem Schicksal und ihrem Leiden auf der Spur, als irgendwo exemplarisch für eine Frau in einer Klassengesellschaft und Aufsteigerin. Han Kang teilt mit den beiden, dass sie keine Vertreterin der höheren Heiterkeit ist, taugt aber weder zur Gesellschaftswissenschaftsvorlage wie Ernaux noch ist sie raunende Christin mit Alkoholiker-Hintergrund wie Fosse.

Zurück nach Südkorea: »Die Vegetarierin« wird 2009 verfilmt. 2016 erscheint die englische Übersetzung, für die Han Kang mitverantwortlich zeichnet: Der Roman mit dem Man-Booker-International-Prize geehrt … den dieses Jahr bekanntlich die Ost-Berlinerin Jenny Erpenbeck absahnte. Dann geht’s los, Bestseller-Zahlen, Übersetzung in 25 Sprachen, 2016 kommt das Buch in Deutschland raus beim Aufbau-Verlag.

Dort erschien zuletzt Kangs vierter Roman »Griechischstunden«; ihr Werk wird auf Deutsch übersetzt von Ki-Hyang Lee. Es geht wieder vor allem um die Beziehung Frau-Mann, die Allgegenwart der Gewalt. Eine Mutter verliert nach dem Tod ihrer Mutter und nach dem Verlust des Sorgerechts für ihren Sohn die Sprache. Und versucht sich mit Privatunterricht in Altgriechisch, niemandes Muttersprache, zu heilen. Ihr Dozent ist blind.

Han Kang geht es um Abgründe, die dunklen Ecken der Seele, schwere Melancholie, Traumata. Das kann man versuchen in Bezug zu setzen mit der modernen südkoreanischen Hochleistungsgesellschaft, in der stille, stumme Abweichung, das Nicht-Mitmachen-Wollen beim Mühen um das private Glück, ein System zum Bröseln bringt. Politik und Geschichte sind Han Kang keineswegs fremd: Ihr Roman »Menschenwerk« handelt vom Massaker des südkoreanischen Militärs während Studentenprotesten 1980 in ihrer Heimatstadt. Erzählt wird aus der Sicht eines Toten. Zahlreiche Tagebücher und historische Dokumente hat die Autorin zur Recherche herangezogen.

Die stets knappe Begründung der Schwedischen Akademie für ihre Wahl lautet bei Han Kang wie folgt: Sie erhält den Preis »für ihre intensive poetische Prosa, die sich historischen Traumata stellt und die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens offenlegt.« So weit, so abstrakt. Han Kang ist mit 53 Jahren eine relativ junge Gewinnerin. Zudem ist sie erst die 18. Frau in über 100 Jahren Literaturnobelpreisgeschichte mit dieser Auszeichnung. Eine sehr gute Schriftstellerin, bestimmt. Eine glückliche Entscheidung für den Buchhandel, wo Romane mit Handlung immer noch am besten zu verkaufen sind. Kontrovers: eher nicht.

Es wurde also kein palästinensischer Autor, niemand aus Israel, keine Ukrainerin, kein russischer Dissident dieses Jahr. Die Schwedische Akademie vermeidet Konflikte. Eine von Millionen bereits entdeckte und geschätzte Autorin, die, nun ja, sehr gut schreiben kann, aber die Literatur, das Erzählen nicht wirklich erneuert hat oder in Frage stellt, wird noch berühmter. So sei es. Der Rummel um Entscheidungsfindung im Hinterzimmer oben im hohen Norden in Stockholm ist, wenn man ehrlich ist, sowieso ein pseudo-aristokratisches Spektakel in Diensten einer Bücher-Branche, für die es besser wäre, viele kleine ernste und mutige literarische Unternehmungen zu fördern als ein paar Superstars auf Zeit ins Rampenlicht zu zerren.

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