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»Der Regenbogen ist mehr als ein Symbol der queeren Bewegung«
In Mecklenburg-Vorpommern wächst der Widerstand gegen das Entfernen einer Flagge
Nach dem Beschluss der Stadtvertretung Neubrandenburgs, die Regenbogenfahne vor dem Bahnhofsgebäude abzuhängen, mehrt sich die Kritik. Am Wochenende demonstrierten mehrere Hundert Teilnehmende vor dem Bahnhof, und für Donnerstag ist eine weitere Protestveranstaltung geplant. Eine Online-Petition erreichte am Dienstagnachmittag 10 000 Unterschriften.
Tobias Hecht ist Mitgründer der Wählergruppe Cannabis und Bürgerrechte, die mit einem Sitz im Kreistag des Landkreises Mecklenburgische Seenplatte vertreten ist, dessen Kreisstadt Neubrandenburg ist. »Mich hat der Beschluss erbost und empört«, sagt er dem »nd«. Deshalb habe er für vergangenen Freitag eine Mahnwache angemeldet. »Ich habe kaum Werbung dafür gemacht und eigentlich mit weniger als 30 Leuten gerechnet«, so der Lokalpolitiker. Es wurden dann über 200 Personen, die sich mit Regenschirmen und Fahnen mit Regenbogenmotiv vor dem Bahnhof versammelten und die Stadtvertretung aufforderten, ihre Entscheidung rückgängig zu machen. »Ein gutes Zeichen dafür, dass die Regenbogenfahne vielen Menschen etwas bedeutet«, meint Hecht.
»Mich hat der Beschluss erbost und empört.«
Tobias Hecht
Wählergruppe Cannabis und Menschenrechte
Doch wie kam es überhaupt so weit? Antragssteller Tim Großmüller ist in Neubrandenburg für seine Queerfeindlichkeit und rechte Hetze bekannt. Seine Fraktion »Stabile Bürger für Neubrandenburg« ist in der Stadtvertretung alles andere als ein politisches Schwergewicht. Sie kommt gerade einmal auf einen Sitz: seinen. Sicher, auf die Stimmen der AfD und weiterer lokaler Rechtsaußen-Wählergruppen konnte er zählen. Dass Teile des BSW für den Antrag stimmten, hat allerdings viele empört. So auch Tobias Hecht. Der ist in Neubrandenburg gut vernetzt und vermutet, dass die demokratischen Fraktionen in der Stadtvertretung damit gerechnet haben, dass der Antrag abgelehnt wird. Deshalb hätten sie möglicherweise versucht, das Thema kleinzuhalten. Ein Fehler, wie sich nun herausgestellt hat. Den Grund dafür sieht Hecht in einer »Mischung aus Dusseligkeit, mangelnder Absprache und Niedertracht«.
»Irgendwann bemerkt man die Auswirkungen auf Ehemann, Familie und Freunde.«
Silivio Witt Oberbürgermeister
Hinzu komme, dass viele Menschen – auch Teile der Stadtvertretung – die Bedeutung der Regenbogenfahne nicht kennen, meint der Kommunalpolitiker. »Der Regenbogen ist mehr als ein Symbol der queeren Bewegung«, sagt Hecht. Historisch betrachtet stand der Regenbogen demnach als Zeichen für den Frieden zwischen Mensch und Gott. Und auch die moderne Friedensbewegung verwendet – mit dem Aufdruck »Pace« (Frieden) versehen – die Regenbogenfahne. Heute bedeute sie: Jeder soll so akzeptiert werden, wie er ist; das gelte zwar auch, aber eben nicht nur für queere Personen. Dazu Hecht: »Wenn man mitbekommt, dass so ein schlimmer Beschluss demokratisch verabschiedet wird, und man sich selbst davon betroffen fühlt, dann ist es eine demokratische Pflicht, zu protestieren.«
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Schon vor der Kundgebung hat die Entscheidung der Stadtvertretung ein politisches Beben ausgelöst. Der offen schwul lebende Oberbürgermeister Silvio Witt gab am Tag nach dem Beschluss seinen Rücktritt im Mai 2025 bekannt. Am Freitag äußerte er sich auf einer Veranstaltung der Körber-Stiftung in Berlin erstmals zu den Gründen: »Da ist schon eine Menge passiert, da ist schon eine Menge Druck, der ausgeübt wird«, so Witt. »Irgendwann ist ein Punkt erreicht, wo Sie merken, dass das Auswirkungen auf Ihr Umfeld hat, auf Ihren Ehemann, auf Ihre Familie, auf Ihre Freunde«. Besonders pikant: Im März meldete die Polizei, dass gegen Antragsteller Großmüller ermittelt werde, weil er Witt auf den sozialen Medien mehrfach beleidigt und sich ausländer- und queerfeindlich geäußert haben soll.
Die Proteste gehen also weiter: Am Donnerstagnachmittag plant der Verein queerNB eine weitere Demonstration. Zudem hat er dazu aufgerufen, Regenbogenflaggen an privaten Fenstern, Balkonen und Flaggenmasten aufzuhängen. Eine Solidaritätsaktion, der sich auch Menschen anschließen können, die nicht in Neubrandenburg wohnen …
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