Damit die Sonne durchkommt

In seinem neuen Roman »Plasmatropfen« erzählt Joshua Groß von Magie, Kunst, Empathie und Widerstand

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 4 Min.
Plamatropfen im Anflug? Eine Kunstaktion an der Promenade von Thessaloniki am Mittelmeer.
Plamatropfen im Anflug? Eine Kunstaktion an der Promenade von Thessaloniki am Mittelmeer.

Helen Farxo ist Malerin und einigermaßen erfolgreich. Als ihre Bilder aus einer Ausstellung in einem niederländischen Raumfahrtmuseum gestohlen werden, nimmt die Mittdreißigerin das ganz lässig und regt sich nicht darüber auf. Viel mehr macht sie sich um ihren Lebensgefährten Lenell Sorgen, der in ihrem gemeinsamen Haus in der griechischen Kleinstadt Egio am Golf von Korinth lebt und fortwährend an Depressionen leidet. Als Seismologe forscht er zu möglichen tektonischen Plattenverschiebungen am Mittelmeer.

Joshua Groß erzählt in seinem neuen Roman »Plasmatropfen« vom nicht ganz einfachen Beziehungs- und Arbeitsalltag von zwei Menschen Anfang 30. Nur driftet die Realität dieser wundervoll süffig geschriebenen Erzählung, die zwischen Paris, griechischen Stränden, einer abgelegenen Gegend im Permafrost-Gebiet und dem Palazzo, einer von Anarchisten und Künstlern besetzten Mall in Holland, angesiedelt ist, immer wieder ins Fantastische ab. Denn Helen verfügt über besondere Kräfte, kann ebenso Wolkenfelder im Himmel aufreißen, damit die Sonne durchkommt, wie auch die rotierende Flüssigkeit in einer Slushi-Maschine im Vorbeigehen gefrieren lassen. Als Kind brachte sie mit ihrem Vater am einsamen Strand sitzend sogar Felsblöcke zum Schweben und schleuderte sie ganz locker ins Meer.

Die titelgebenden »Plasmatropfen« träufelt sich Helen immer wieder in die Augen: »Schmelzwasser, um ihre schwindenden Augenhöhlen zu befestigen, um sie nachwachsen zu lassen«, wenn sie durch die Welt jettet, in Paris mit ihrer Galeristin essen geht, mit einem Quad durch das Permafrost-Gebiet fährt und dort mit ihrem Lover an einem See schläft oder in Holland mit ihrer Freundin Lynn, einer ehemaligen Chanson-Sängerin, in einer Karaoke-Bar feiert.

Ihr Freund Lenell überprüft derweil seismologische Messstationen und kommuniziert mit seinen Forschungskollegen, wenn er nicht gerade für die lokale Basketball-Mannschaft als Security im überfüllten Stadion steht. Ihn plagen die Traumata der Kindheit, vor allem das dysfunktionale und toxische Verhältnis zur alkoholkranken Mutter. Schließlich lernen Lenell und Helen den Spechtmenschen kennen, ein halb menschliches Wesen, das einen Vogelkopf hat, auf einer kleinen Insel im Golf von Korinth eine seltene Baumart züchtet und mit einem Wasserflugzeug durch die Gegend düst. Lenell lässt sich schließlich auf eine Affäre mit dem Spechtmenschen ein, während Helen versucht, mittels Zauberkräften seine Depression zu heilen, auf die Gefahr hin, dadurch die Beziehung zu Lenell endgültig zu zerstören.

»Plasmatropfen« erzählt von Übergängen, vom kleinteiligen Kampf darum, sich zu verändern und sich den mitunter ebenso schwierigen wie banalen, aber auch immer wieder fantastischen Erfordernissen des Lebens zu stellen. Es geht um sexuelles Begehren, um künstlerische Sehnsüchte, aber auch um ganz alltägliche Ereignisse. Das reicht von detaillierten Beschreibungen, wie Espresso zubereitet wird, das Aufkratzen von Rubellosen über Versicherungsfragen bei gestohlenen Gemälden, den Marktwert von Kunst bis hin zu bizarren Überschwemmungen in den Niederlanden. Dorthin fährt Helen schließlich, um an einer Beerdigung für eine Künstlerin teilzunehmen, die in einer havarierten Umwelt stattfindet. »Vom Palazzo aus starteten zehn Hovercrafts mit minimaler Geschwindigkeit. An Bord befanden sich die Trauergäste. Der Tag dämmerte sich in den Abend. Es schneite nicht, aber tiefe Wolkenschwaden zogen in der feuchten Luft über Lelystad.« Joshua Groß entwirft eine mitunter lyrisch-fantastische Welt, durch die er seine Protagonist*innen schickt.

Der Fokus auf die inneren Prozesse seiner Figuren, deren Versuche, sich den Traumata der Vergangenheit zu stellen und familiäre oder familienähnliche Bindungen aufzuarbeiten, ziehen sich als roter Faden durch diesen Roman. Thematisch liegt Groß, Jahrgang 1989, damit voll im Trend einer Millennial-Literatur, wie sie etwa auch die fast gleichaltrige Sally Rooney schreibt, in deren neuem Roman »Intermezzo« es ebenfalls um die Verarbeitung traumatischer und konfliktbesetzter Familienverhältnisse geht. Groß wie Rooney, schreiben über emotionales und psychisches Empfinden und die Wahrnehmung der Welt jenseits von Arbeitsrealitäten, auch wenn diese ganz am Rande durchaus vorkommen. Vielmehr geht es um das Ausleuchten emotionaler Abgründe und um die Frage, mit wie viel Empathie soziale Aushandlungsprozesse gestaltet werden, die letztlich auch immer politisch sind.

Wobei das Außergewöhnliche an Groß’ Prosa sein leichtfüßiger Umgang mit fantastischen Elementen ist, die er spielerisch in seine Texte einbaut, ohne Genreliteratur daraus zu machen, obwohl seine Protagonistin letztlich über als Telekinese bezeichnete magische Superkräfte verfügt. Wer also etwas über den Zauber des Mondes und der Sterne wissen will, über Wasserflugzeuge, die zu einsamen Inseln fliegen, oder sich für die ökologische Instandsetzung im niederländischen urbanen Wasteland interessiert, sollte sich dieses Buch nicht entgehen lassen.

Joshua Groß: Plasmatropfen. Matthes und Seitz, 263 S, geb., 24 €

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