»Frauen, Kinder und ältere Menschen kommen sehr erschöpft an«

Sozdar Akko, Pressesprecherin des Kurdischen Roten Halbmonds, über die Lage in Nord- und Ostsyrien

  • Interview: Tim Krüger und Isabel Krokat
  • Lesedauer: 4 Min.
Vertriebene aus dem Libanon bereiten sich darauf vor, den Grenzübergang Masnaa im Libanon nach Syrien zu passieren.
Vertriebene aus dem Libanon bereiten sich darauf vor, den Grenzübergang Masnaa im Libanon nach Syrien zu passieren.

Seit der israelischen Bodeninvasion in den Libanon sind über eine Million Menschen auf der Flucht, Hunderttausende haben die Grenze nach Syrien überquert. Einige sind auch auf dem Weg in die Selbstverwaltung. Wie ist die Lage vor Ort?

Seit der Eskalation des Krieges im Libanon haben wir als Roter Halbmond in der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien mit den Vorbereitungen begonnen, um die Geflüchteten bei uns aufnehmen zu können. Derzeit gibt es zwei Übergänge in die Selbstverwaltungsgebiete unter Kontrolle der syrischen Regierung, an denen die Geflüchteten ankommen: den Grenzübergang Al-Tayha nahe der Stadt Manbidsch und den in Al-Tabqa. Die Lage ist sehr ernst. Wir haben es mit einem Ausnahmezustand zu tun und versuchen mit unseren begrenzten Mitteln, die Sicherheit und Gesundheitsversorgung der Geflüchteten zu gewährleisten. Wir sind mit unserem medizinischen Personal, Krankenwagen und einer mobilen Klinik vor Ort und kümmern uns um die Erstversorgung in den Empfangszelten.

Interview

Sozdar Akko ist die Pressesprecherin des Kurdischen Roten Halbmonds Heyva Sor a Kurd in Nord- und Ostsyrien. Wegen der israelischen Angriffe im Libanon sind viele Menschen nach Syrien geflüchtet, auch in die Gebiete der Demokratischen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (AANES). Dort liegt die Gesamtzahl von Geflüchteten aus dem Libanon bei 19 996, einschließlich 28 Toten. Fast alle sind syrische Staatsbürger.

Wie viele Menschen sind mittlerweile in Syrien angekommen und wie viele davon sind in der Selbstverwaltung oder auf dem Weg dahin?

Laut Pressberichten sind insgesamt 400 000 Menschen in Syrien angekommen. Ungefähr ein Viertel sind libanesische Staatsbürger und drei Viertel Syrer, die das Land während des Bürgerkriegs verlassen haben und jetzt in ihre Herkunftsorte zurückkehren. Nach unseren aktuellen Zahlen sind mehr als 20 000 Menschen in Nord- und Ostsyrien angekommen: circa 7000 Männer, 6000 Frauen und 6000 Kinder. Einige sind als Leichen überführt worden.

Was passiert mit den Menschen, wenn sie in das von der syrischen Regierung kontrollierte Gebiet kommen? Was gibt es dort für Aufnahmestrukturen?

Wir können nicht genau sagen, wie das System dort funktioniert. Aber wir können von dem berichten, was wir sehen, wenn die Menschen hier ankommen. Die Wartezeiten an der Grenze und der Weg bis hierher sind lang und beschwerlich. Vor allem Frauen und Kinder, aber auch ältere Menschen kommen hier sehr erschöpft an. Auch behinderte und verwundete Menschen haben es sehr schwer. Wir haben ein System aufgebaut, in dem wir vor allem Menschen mit Behinderung direkt an der Grenze aufnehmen können und schauen, welche Art von Pflege und Unterstützung sie brauchen.

Vor zwei Wochen war UN-Flüchtlingshochkommissar Filippo Grandi zu Besuch in Syrien und hat humanitäre Hilfe zugesagt. Wird von dieser Hilfe etwas in der Selbstverwaltung ankommen?

Wir als Roter Halbmond haben keinen direkten Kontakt zu den Vereinten Nationen. Die UN beschränken sich einzig und allein auf die international anerkannten Einrichtungen, das heißt in unserem Fall die syrische Regierung. Dementsprechend erhalten wir auch keine direkte Hilfe. Eine andere Schwierigkeit, die die Versorgung der Geflüchteten betrifft, ist die anhaltende Blockade des Grenzübergangs Til Kotscher (Arabisch: Al-Jarubijeh) zum Irak. Lange Zeit wurde der Übergang genutzt, um humanitäre Hilfe, besonders medizinisches Material und Hygieneartikel, in die Region zu transportieren. 2020 wurde der Übergang durch ein Veto Russlands und Chinas im UN-Sicherheitsrat geschlossen. Seitdem laufen die UN-Hilfen ausschließlich über die syrische Regierung und wir können keine Lieferungen empfangen.

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Die Türkei greift die Region immer wieder an. Wie beeinflusst das die Versorgung und Sicherheit der Geflüchteten?

Durch die Überfälle der Türkei auf Afrin und Serekanije (Arabisch: Ras Al-Ayn) wurden viele Menschen aus ihrer Heimat vertrieben und leben seitdem in den Gebieten der Selbstverwaltung in Flüchtlingslagern. Wir kümmern uns um die Gesundheitsversorgung in den Lagern und versuchen, einen sauberen Zugang zu Trinkwasser sowie Elektrizität zu gewährleisten. Doch die Türkei greift immer wieder die Infrastruktur in unserer Region an. Elektrizitätswerke, die Wasserversorgung, Generatoren und Gaskraftwerke – alles wird bombardiert. Dadurch bricht in vielen Orten die Stromversorgung zusammen, immer wieder gibt es Tote und viele Verwundete. All das ist eine enorme Belastung und erschwert die Versorgung der Geflüchteten aus dem Libanon umso mehr. Wir gehen davon aus, dass noch viele Menschen in unsere Region kommen werden. Um die Versorgung finanzieren zu können, haben wir eine Spendensammlung unter der Bevölkerung gestartet. Wenn keine Hilfe von außen kommt, müssen wir uns als Bevölkerung gegenseitig die Hand reichen.

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