- Kultur
- Zukunft des Journalismus
Klickzahlen und Speichelfäden
Über die Zukunft des Journalismus und darüber, was diese mit Schaum bildenden Flüssigkeiten zu tun hat
Die Medien, die freie Presse, der tapfere Journalismus: Was und wo wären wir ohne sie? Wir würden in schlammigen stinkenden Erdlöchern hausen und, aus glasigen Augen ins Leere starrend, an unserem Geschlechtsteil reiben, während uns ein Speichelfaden an der Lippe hängt. Kurz: Wir wären stumpfsinnige Barbaren ohne jeden Verstand, von Zivilisation und Kultur nichts ahnend, auf ewig dazu verdammt, immer dümmer zu werden. »Bald singt man in höchstem Ton: / Regression, ich komme schon.« (Wiglaf Droste)
Was war es, das uns in der Vergangenheit davor schützte, so zu werden? Was lehrte uns, dank des unfasslichen Wunders der Sprache, zu denken? Was versorgte uns mit neuen, originellen Gedanken, ließ durch das Erzählen von Geschichten von und über uns selbst unseren Geist erblühen und unsere Phantasie erwachen, verschaffte uns Halt und Orientierung in Zeiten der Verblödung? Richtig: die Presse. Die vierte Gewalt! Die unabhängige, unbestechliche, überparteiliche Zeitung, das Sturmgeschütz der Demokratie, Hand in Hand gehend mit der wissenschaftlichen und kulturellen Entwicklung der Moderne! Sie machte einst die Menschen klüger, kritischer und widerstandsfähiger gegen die Bedrohungen des Populismus und der Propaganda. Sie befähigte die lesende Bevölkerung zur Teilnahme an der demokratischen Willensbildung und zum wohlüberlegten Urteil.
In ihr publizierten die großen linken deutschen Dichter und Denker: Heine, Börne, Tucholsky, Kästner, Elsner und Schernikau, die zu ihren Lebzeiten als vaterlandslose Gesellen verunglimpft wurden. Die Zeitung druckte, was gesagt werden musste, aber manchmal nicht gesagt werden durfte, übte unbarmherzig Kritik an fragwürdigen Zuständen, brachte Verborgenes ans Licht, organisierte den sozialen Fortschritt und diente dem Ideal der Aufklärung. Ossietzkys »Weltbühne«! Die »Spiegel«-Affäre! »Wir haben abgetrieben!« (»Stern«, 6.6.1971), Woodward und Bernstein!
»Trete heraus, o Mensch, und befreie dich aus deiner selbstverschuldeten Unmündigkeit! Lies die Zeitung und begreife, dass sie es ist, die die Fackel der Wahrheit durchs unendlich scheinende Tal der Lügen trägt!« So rief man einstmals dem Leser zu, wenn die fertig gedruckte Zeitung, noch warm und das belebende Odeur frischer Druckerschwärze verströmend, am Kiosk lag.
Thomas Blum ist grundsätzlich nicht einverstanden mit der herrschenden sogenannten Realität. Vorerst wird er sie nicht ändern können, aber er kann sie zurechtweisen, sie ermahnen oder ihr, wenn es nötig wird, auch mal eins überziehen. Damit das Schlechte den Rückzug antritt. Wir sind mit seinem Kampf gegen die Realität solidarisch. Daher erscheint fortan montags an dieser Stelle »Die gute Kolumne«. Nur die beste Qualität für die besten Leser*innen! Die gesammelten Texte sind zu finden unter: dasnd.de/diegute
Naja. So wenigstens lautet der Mythos, der relativ unbeschadet durch die vergangenen zwei, drei Jahrhunderte polterte.
Sprechen wir nun aber auch noch kurz von der Wirklichkeit und der Gegenwart.
Ein Journalistenkollege erzählte mir vor ein paar Tagen folgende kleine Anekdote aus seiner Redaktion (es handelt sich um die Redaktion einer namhaften bürgerlichen Tageszeitung mit Sitz in Berlin): Einem Filmemacher und Fotografen, der seit Jahren nebenbei als freier Journalist für das Blatt arbeitete, indem er in ausgewählten Regionen Südamerikas die jeweils neuesten durch den Klimawandel verursachten Veränderungen sowohl fotografisch dokumentierte als auch in kleinen Essays sachkundig beschrieb, sei vom stellvertretenden Chefredakteur von heute auf morgen ein neuer Auftrag erteilt worden. Oder besser gesagt: An ihn sei eine neue, sehr bestimmt formulierte Direktive ergangen.
Das »Wissenschaftsding« und der »ganze Kram«, »inklusive der Wortlastigkeit«, so der stellvertretende Chefredakteur, all das habe sich in jüngerer Zeit als »zu komplex« und »nicht zukunftstauglich« erwiesen. Die Bedürfnisse des Lesers, vor allem des »durch zu viel Textballast überforderten« Online-Konsumenten, müssten »anders« und »auf deutlich modernere, zeitgemäße Art bedient« werden, weswegen der künftig benötigte »Content passgenauer auf das User-Verhalten zugeschnitten« werden müsse.
Ob also bitte er, der erfahrene Fotograf und Filmemacher, sich nicht künftig vielleicht darauf konzentrieren könne, in der Umgebung, in der er sich jeweils gerade bewege, auf »kleine, abfließende Flüssigkeiten« zu achten und zu gegebener Zeit einfach so rasch als möglich seine Kamera draufzuhalten. Denn jüngere Erhebungen hätten eindeutig ergeben, dass die Leser gerne kurze, mit beruhigender Musik unterlegte Videos von »Schaum bildenden, spiralförmig abfließenden bunten Flüssigkeiten« betrachteten. Diese hätten eine überaus entspannende Wirkung auf die Leser, die dann auch nicht zu sehr gefordert würden. So etwas brauche man, das sei »die Zukunft des Journalismus«. Das generiere »Klickzahlen, dass nur so die Bude wackelt«. Das sei »praktisch Content in seiner avanciertesten Form«.
Ich bin mir nicht sicher, ob in einer besseren Zukunft nicht besser andere Dinge als Klickzahlen und Marketingtrottel den Journalismus bestimmen sollten. Wer sich entspannen möchte, hat im Übrigen eine Vielzahl andere Möglichkeiten als die Zeitungslektüre.
Sicher ist jedenfalls: Der oben erwähnte Kollege, der mir diese Geschichte erzählte, ist mittlerweile nicht mehr in der Redaktion der genannten Zeitung tätig. Er hat, kurz nach der Ankündigung der oben skizzierten Offensive für mehr leserfreundlichen »Content«, gekündigt.
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