Wenn das Gehirn zu Boden klatscht

George Saunders' Roman »Die kurze und schreckliche Regentschaft von Phil« weckt düstere Ahnung zur erneuten Präsidentschaft von Trump

Zeiten der Rechtspopulisten und Autokraten lassen Dystopien erblühen.
Zeiten der Rechtspopulisten und Autokraten lassen Dystopien erblühen.

Auf kaum mehr als 100 Buchseiten eine gelungene Satire auf Nationalismus, Kolonialismus und jede Art des staatlichen Autoritarismus zu verfassen, ist möglich. Oder sagen wir besser: Eine Satire auf überhaupt alles, was mit Politik und staatlicher Ordnung beziehungsweise Weltunordnung zu tun hat, seien es nun Kapitalherrschaft, Populismus, Machtmissbrauch, professionalisierte Lüge, Propaganda, Korruption, Ausbeutung, Krieg, Folter oder andere Arten von Dysfunktionalität des 20. Jahrhundert. Dass es eine solche multifunktionale Satire geben kann, beweist der US-amerikanische Literaturprofessor und Schriftsteller George Saunders mit seinem Kurzroman »Die kurze und schreckliche Regentschaft von Phil«. Darin gibt es einen selbstgefälligen senilen Präsidenten, der nur sehr begrenzt Ahnung von irgendwas hat; einen ebenso egomanischen und gewissenlosen wie brutalen politischen Karrieristen (»Phil«), der nur populistische Phrasen von sich gibt; ein kleines ausgebeutetes Land und ein großes ausbeutendes; schamlos herrschende Manipulierte und gedemütigte beherrschte Manipulierte.

Man könnte also sagen, es geht in diesem Kurzroman beinahe so zu, wie bei uns in der Realität. Nur wird alles so erzählt, dass man es besser versteht: »Das Land namens Innen-Horner war so klein, dass nur ein Innen-Hornerit auf einmal hineinpasste. Die anderen sechs Innen-Horneriten mussten warten, bis sie dran waren, in ihrem eigenen Land zu leben, und standen derweil sehr schüchtern in dem sie umgebenden Land namens Außen-Horner herum.«

Das Land Innen-Horner befindet sich also als eine Art winziger Inselstaat mitten im Staatsgebiet des großzügig bemessenen Landes Außen-Horner. Das ist zweifelsohne schon mal eine ziemlich komplizierte Ausgangssituation. Doch damit nicht genug. Es wird noch verwickelter. Denn genaugenommen halten sich die jeweils auf ihren Aufenthalt in ihrem Land wartenden Innen-Horneriten nicht in Außen-Horner auf, sondern in einer auf dem Staatsgebiet von Außen-Horner installierten »Kurzzeitaufenthaltszone«, deren einziger Sinn, wie ihr Name schon sagt, darin besteht, den Innen-Horneriten als Wartebereich zu dienen. So etwas muss ja früher oder später zu Konflikten führen, ahnt man. Und tatsächlich geschieht das schneller als gedacht.

Denn »ohne Vorwarnung« schrumpft das Staatsgebiet von Innen-Horner plötzlich von einem Tag auf den anderen, und zwar so sehr, dass »Elmer, der aktuelle Bewohner von Innen-Horner, zu drei Vierteln gar nicht mehr in Innen-Horner stand«, sondern in Außen-Horner, was natürlich den zuständigen außen-hornerischen Grenzbeamten zum Auslösen eines Alarms bewegt. Denn was sich hier anbahnt beziehungsweise im Grunde schon voll im Gange ist, ist: eine Invasion. Eine Invasion, die von drei Vierteln der Körpermasse eines frechen Innen-Horneriten vorgenommen wird, dem sein eigener Staat plötzlich nicht mehr zu genügen scheint. Und wer auf eine Invasion nicht angemessen zu reagieren in der Lage ist, dessen Staat dürfte es bald nicht mehr geben.

Womit die Karriere und Erfolgsgeschichte des Demagogen Phil beginnt, eines großmäuligen Außen-Horneriten, der bis dahin »allgemein als etwas verbitterter Versager betrachtet wurde«, jetzt aber Ambitionen hat, Diktator von Außen-Horner zu werden. Sein rasch angenommener Vorschlag, von den frech ins außen-hornerische Staatsgebiet lappenden Innen-Horneriten eine täglich zu entrichtende Aufenthaltssteuer zu verlangen, markiert jedenfalls den Beginn seines rasanten politischen Aufstiegs.

Angelegt hat Saunders seine Story über Demagogie und das Entstehen eines totalitären Staatswesens, die im Original bereits 2005 erschienen ist, aber erst seit Kurzem in deutscher Übersetzung vorliegt, als eine Mischung aus Parabel, grimmigem Märchen und satirischer Groteske: die beiden Staaten (»Innen-Horner«/ »Außen-Horner«) sind fiktiv und kommen einem beim Lesen doch in gewisser Weise vertraut vor, die handelnden Horneriten sind erschreckend menschenähnlich und gleichzeitig sind sie aus »Thunfischdosen« und »thermalen Belüftungsapparaten« zusammengebaut oder sehen aus »wie eine riesige Gürtelschnalle«, der populistische Politkarrierist Phil mag verblüffende Ähnlichkeiten mit dem ehemaligen und künftigen US-Präsidenten Donald Trump aufweisen und ist doch erkennbar eine literarische Figur. Wenn auch eine, die frappant an den einen oder anderen realen Politiker erinnert: »Der Bolzen, der sein Gehirn auf seiner riesigen Gleitablage in Position hielt, fiel manchmal raus, dann rutschte sein Gehirn schnell an der Ablage herunter und klatschte zu Boden.« Da ist es beruhigend zu wissen, dass Phil von einer Hand voll diensteifriger Lakaien umgeben ist, die ihm, wenn ihm dieses Malheur passiert, sein Gehirn wieder an der richtigen Stelle anbringen.

Auf die Frage, woran er gedacht habe, als er diese Erzählung schrieb, antwortete George Saunders kürzlich dem »Amnesty-Journal«, dem Mitgliedermagazin der Organisation Amnesty International: »Ich habe mir einige Katastrophen des 20. Jahrhunderts angeschaut und überlegt, welche Gemeinsamkeiten es gibt und was die strukturelle und psychologische Essenz der Entstehung autoritärer Macht ist. Es ist das Ego, das sich ausweitet und zur Macht greift, im Wunsch nach Permanenz und Unsterblichkeit. Und Macht korrumpiert. Ich versuchte dies mit dem Aufstieg von Phil zu beschreiben, der mal ein normaler Bürger wie andere auch war und dann erst zum Monster wurde.«

Wie Jonathan Franzen, Bret Easton Ellis oder David Foster Wallace gehört auch Saunders zu jener Generation um 1960 geborener US-Schriftsteller, denen es gelingt, postmoderne Erzählstrategien, Gesellschaftskritik und bitterböse Komik miteinander zu verbinden. In vielen seiner Erzählungen – die häufig einen Dreh ins Tragikomische und Wahnwitzige haben, aber erkennbar Gegenstände unserer Gegenwart verhandeln – nutzt er das Science-Fiction-Genre, um seine Sozialkritik beziehungsweise seine Kritik an einem immer stärker eskalierenden Kapitalismus zu formulieren: In der meist nahen Zukunft, in der seine dystopischen Geschichten angesiedelt sind, haben sich die USA zu einem mal mehr, mal weniger offensichtlichen Polizeistaat entwickelt; jedes Fleckchen Erde und jeder Bereich der zwischenmenschlichen Kommunikation ist vollständig kommerzialisiert; das beschädigte Leben ist allgegenwärtig.  

Der Schriftsteller Junot Díaz lobte seinen zehn Jahre älteren Kollegen Saunders einmal mit den Worten: »Es gibt niemanden, der ein genaueres Auge für die absurden und entmenschlichenden Lebensbedingungen unserer gegenwärtigen Kultur des Kapitals hat.« Tatsächlich sind die prä- oder postapokalyptischen Szenarien in den dunklen, grotesken Erzählungen und Kurzgeschichten von George Saunders oft nur das Ergebnis eines Weiterdenkens unserer Gegenwart in die nahe Zukunft. Seine Ghettos und Gated Communities, seine regredierten, verkümmerten und funktionalisierten Menschen – all das ist, sieht man einen kurzen Moment genau hin, nur ein klein wenig von der Jetztzeit entfernt.

George Saunders: Die kurze und schreckliche Regentschaft von Phil. A. d. Engl. v. Frank Heibert. Illustr. v. Benjamin Gibson. Luchterhand, 144 S., geb., 20 €.

Der populistische Politkarrierist Phil weist verblüffende Ähnlichkeiten mit dem ehemaligen und künftigen US-Präsidenten Donald Trump auf.

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