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Almodóvars »The Room Next Door«: Finale einer Lebenssymphonie
Wer hat noch seinen eigenen Tod? In »The Room Next Door« setzt Pedro Almodóvar das Sterben einer ungewöhnlichen Frau mit poetischer Kraft ins Bild
Unser Leben läuft von Geburt an auf den Tod zu. Ist dieser der Feind des Lebens, den man nie akzeptieren darf, wie der Schriftsteller Elias Canetti meint, oder aber ein Teil des Lebens, den man bejahen muss? Todesarten sind so vielgestaltig wie das Leben selbst. Rilke formulierte 1910 in seinen im Moloch Paris entstandenen »Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« die Frage, was aus dem Tod in der Massengesellschaft werde – ist er fabrikmäßig wie in den großen Krankenhäusern, wo es nicht auf den Einzelnen ankommt? Wer hat noch seinen eigenen Tod, und was bedeutet dieser in Bezug auf das bisher gelebte Leben?
Das ist auch das Thema von Pedro Almodóvars »The Room Next Door«, dem ersten englischsprachigen Langfilm des Spaniers, mit dem er in diesem Jahr den Goldenen Löwen bei den Filmfestspielen in Venedig gewann. Bislang kreisten seine Filme immer um Katholizismus und Sexualität, bevorzugt Homosexualität. Aber nun blickt der 75-Jährige mit aller Schonungslosigkeit auf das Ende des Lebens. Aber da er keinen Traktat über den Tod abliefern will, setzt er das Sterben einer ungewöhnlichen Frau mit poetischer Kraft ins Bild.
Dies also ist ein Film über den Tod, den selbst gewollten, den man nicht Selbstmord nennen sollte, weil es hier keine niederen Beweggründe gibt, sondern Freitod. Und dieser erfolgt nicht aus Lebensüberdruss, sondern um Subjekt des eigenen Lebens zu bleiben. Bloß nicht zum Objekt einer klinischen Maschinerie werden, die bei Krebs nur drei Funktionen kennt: Operation, Chemotherapie und Bestrahlung.
Das alles hat Martha bereits hinter sich. Früher arbeitete sie als Reporterin in Kriegsgebieten, der Tod war dort allgegenwärtig. Aber es war der gewaltsame, der nichts gemein hat mit dem guten Tod, den sie sucht. Ihr Krebs ist in der Endphase, und alle Therapien haben dagegen nichts geholfen. Jetzt hat sie sich im Darknet eine Sterbepille besorgt – aber allein will sie nicht in ihren letzten Wochen und Tagen sein. Ihre Freundinnen wollen diese Aufgabe nicht übernehmen, alle sagen sie Martha ab.
Zufällig hört Ingrid, Marthas frühere Freundin, die als Schriftstellerin in New York lebt, von ihrer unheilbaren Krankheit. Sie hatte gerade ein Buch über den Tod veröffentlicht – gegen ihn angeschrieben, den es zu bekämpfen gelte. Natürlich war es auch ihre eigene Angst, die sie dabei antrieb. Ingrid besucht nun Martha, erst im Krankenhaus, dann in ihrer Wohnung. Plötzlich entsteht wieder eine große Nähe zwischen ihnen, sodass Martha sie schließlich bittet, im Zimmer nebenan zu sein, wenn sie auf ihre letzte Reise gehe. Das würde ihr den Abschied von der Welt leichter machten. Eine Zumutung für die Schriftstellerin, die hin- und hergerissen ist zwischen Respektieren der Freitod-Entscheidung der Freundin und Beunruhigung über die Rolle, die sie dabei spielen soll.
Es geht darum, Subjekt des eigenen Lebens zu bleiben – bloß nicht zum Objekt einer klinischen Maschinerie werden.
»The Room Next Door« wird zum furiosen Kammerspiel zweier außergewöhnlicher Schauspielerinnen: Tilda Swinton als Martha und Julianne Moore als Ingrid. Martha mietet ein Haus in Neuengland für sie beide. In dieser Idylle hier will sie, wenn der Tag gekommen ist, aus dem Leben scheiden. Ingrid aber kann damit nicht umgehen; immer damit rechnen zu müssen, sie plötzlich tot aufzufinden, das gehe über ihre Kräfte. Martha beruhigt sie, an dem Tag, an dem sie es getan habe, werde sie ihre Zimmertür schließen, die sonst immer offen steht. Dann könne sie das Weitere anderen überlassen.
Aber so einfach ist das nicht: Ein Leben auf Abruf, wie geht man damit um? Manchmal fühlt sich Martha sehr schlecht, dann spürt Ingrid, wie nahe sie dem Tode schon ist – ausgemergelt, schwach und mit allen hässlichen Begleiterscheinungen eines in ihr wachsenden Todes. »Du bist mein Gast, nicht meine Pflegerin«, gibt ihr Martha bündig zu verstehen, sie komme schon klar. Aber dass Zeit Frist ist, wissen beide.
An manchen Tagen jedoch sprüht Martha wieder vor Energie, es ist, als ob alles noch gut werden könnte. Sie sprechen lange, erinnern sich, lachen, hören Musik und sehen Filme. Aber diese Phasen werden kürzer. Ingrid ahnt: Das, weswegen sie hier sind, steht kurz bevor. Aber sie weiß nicht, wann es passiert; das will ihr Martha nicht sagen – und keinesfalls soll sie später wegen unerlaubter Beihilfe zum Suizid belangt werden können.
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Es ist erstaunlich, woher dieser erschütternde und dabei so gar nicht todesselige, sondern ganz und gar lebensbejahende Film seine Intensität nimmt, wo wir doch sehr bald wissen, wie er ausgehen wird. Und Wunder gibt es nicht – oder doch, ganz kleine zauberische Momente, in denen Einklang herrscht mit dem Leben in seiner unerschöpflichen Dimension.
Nein, eine gute Mutter war Martha wohl nicht. Ihre Tochter hält auch jetzt noch, kurz vorm Weltabschied, kühl Distanz zu ihr. Ein Schmerz, an dem Martha schwer trägt. Sie hat in ihrem Leben vermutlich einiges falsch gemacht. Aber entwertet das etwas von dem, was sie war und immer noch ist, im Angesicht des Todes? Nein, ihr Mut scheint ungebrochen. Auch ihre Neugier auf andere Menschen, auf die Welt um sie herum – und all das soll sie bald zurücklassen? Wie man es auch wendet, es bleibt auf schwer erträgliche Weise grausam.
Doch wenigstens soll sie der Tod nicht als etwas Fremdes überfallen, sondern selbst gewählt sein. Ist das Hybris, Sinnbild eines übersteigerten Individualismus, der sogar noch dem Tod, dieser großen Schicksalsmacht, Vorschriften machen will? Kaum, es ist nur der starke Wille, einen eigenen Tod zu haben, einen, der zu ihrem Leben passt. Wann will sie gehen? Wenn die Sonne scheint oder wenn es regnet? Diese Frage erweist sich als unbeantwortbar.
Dieser Film prägt sich ein, nicht nur wegen seiner Thematik, sondern durch seine besonderen Bilder. Kameramann Eduard Grau gelingt es, mittels sparsamer – und dabei doch höchst artifizieller – Einstellungen eine Atmosphäre aus Weltabschied und intensiven Momenten des Glücks zu erzeugen. Was für sorgsam gewählte Farbarrangements, als wollte er Bilder malen! Das Gelb in Marthas Kleid oder das Grün der Liegestühle auf der Veranda vor dem Haus sprechen zu uns. Es ist wie eine große Lebenssymphonie, die auf ihr Finale zusteuert, ein Höhepunkt, der gleichzeitig der Endpunkt ist.
Ein irritierender Film, der aber keinesfalls vordergründig Absichten verfolgt. Ingrid ist am Ende im gleichen Zwiespalt gefangen, den Freitod ihrer Freundin betreffend, wie am Anfang. Es gibt nun mal Widersprüche unserer Existenz, die zu groß sind, als dass sie jemals aufhören könnten, uns zu beunruhigen. Aber beglückend ist es schon zu sehen, wie hier aus kleinen intimen Beobachtungen ein großer Film entsteht, dessen Intensität den Tod in sich aufhebt.
»The Room Next Door«, Spanien 2024. Regie und Buch: Pedro Almodóvar. Mit: Julianne Moore und Tilda Swinton. 107 Min. Kinostart: 24. Oktober.
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