Was für eine Schande, was für eine Katastrophe!

»Israel im Krieg« – Saul Friedländer legt den zweiten Band seines Tagebuchs vor

  • Stefan Berkholz
  • Lesedauer: 5 Min.
22. Oktober 2024: Eine israelische Rakete schlägt im Süden von Beirut ein.
22. Oktober 2024: Eine israelische Rakete schlägt im Süden von Beirut ein.

Vor einem Jahr erschienen die Tagebuchnotizen des renommierten israelisch-US-amerikanischen Historikers Saul Friedländer aus dem ersten Halbjahr 2023. Bereits der Titel war düster-ahnungsvoll: »Blick in den Abgrund«. Friedländer sah Israel düsteren Zeiten entgegengehen, fürchtete »einen größeren Krieg«. Was dann freilich fünf Monate später, am 7. Oktober 2023 geschah, übertraf die schlimmsten Befürchtungen. Ein Tag des Grauens. Die besondere Niedertracht entfesselter islamistischer Glaubenskrieger der Hamas zeigt sich darin, dass sie ausgerechnet ein Musikfestival und einen Kibbuz zum Ziel ihres mörderischen Anschlags wählten, die für Frieden und der Verständigung der Völker warben. Es wirkt wie ein Fluch über der Region.

Der zweite Band seines Tagesbuches »Israel im Krieg« beginnt mit dem Entsetzen: »Unfassbar! Das Land wird angegriffen! Die Hamas ist massiv in den Süden Israels eingedrungen, entlang der Grenze zu Gaza. Völlige Überraschung und totale Panik. Offenbar hat niemand das kommen sehen.« So lauten die ersten Sätze. »Die Regierung hat geschlafen, die Armee hat geschlafen (…) Was für eine Schande, vor allem für den Militärgeheimdienst, den Schin Beth und den Mossad.« Nach und nach wird das ganze Ausmaß des Massakers deutlich: Etwa 1200 Menschen sind ermordet worden, 250 als Geiseln verschleppt. Bis heute ist das Schicksal von rund 100 Geiseln ungewiss, und die Zahl der Toten in der Region geht inzwischen in die Zehntausende.

Die israelische Regierung hat ihr Volk im Stich gelassen, niemand übernimmt die Verantwortung. Die israelische Bevölkerung wird fortan in Geiselhaft genommen für kriegerische Auseinandersetzungen, die weiteren Hass und weitere Gewalt anstacheln. Vom »Verrat« spricht sogar der Schriftsteller David Grossman. Friedländer zitiert ihn. Das Schlachtfeld ist weiträumig. Israel kämpft an mehreren Fronten.

»Der Premierminister ist bereit, das Land fürseine eigenen Interessen zu opfern.«

Saul Friedländer

Der zweite Band von Friedländers Tagebuch reicht nur bis zum 22. Mai dieses Jahres. Die Dimension von »Israel im Krieg« hat derweil weitere Ausmaße erfahren. Mörderische Drohnen, Leid und Verwüstungen nun auch im Libanon. Gegen Ende wird der Ton der Eintragungen Friedländers zunehmend düsterer, verzweifelter. Der Autor wirkt zermürbt, müde, erschöpft. Der 91-Jährige verfolgt aufmerksam die Nachrichten in seiner Wahlheimat USA, kommentiert, kritisiert, plädiert, spekuliert. Wiederholt spricht er sich für die Zweistaatenlösung aus: »Dieses ganze hoffnungsvolle Projekt mag eine Illusion sein, ein Traum. Dessen bin ich mir durchaus bewusst. Aber die Alternative ist dieser endlose Kreislauf der Gewalt.«

Friedländer kritisiert die radikale Siedlerbewegung: »Die täglichen Übergriffe der Siedler auf Palästinenser sind unerträglich.« Der Historiker verfasste eine Chronologie der Kriege in der Vergangenheit, geführt aus »religiöser Leidenschaft«, zugleich »Weltpolitik mit anderen Mitteln«. Er erwähnt die politischen Hoffnungsträger, die sich einst für Frieden in der Region einsetzten: Jitzchak Rabin, ermordet im November 1995; Anwar as-Sadat, ermordet im Oktober 1981; Yassir Arafat und Shimon Peres, die zusammen mit Rabin 1994 den Friedensnobelpreis verliehen bekamen, verstorben 2004 und 2016.

Friedländer notiert das Leid und die »fürchterlichen Bedingungen«, unter denen Palästinenser heute in Gaza leiden – »es zerreißt einem das Herz«, schreibt er. Zugleich irritiert er mit Begriffen aus dem Militärischen, wenn er von »Operationen«, »chirurgischen Schlägen« oder »Liquidierung« spricht. Der Historiker sorgt sich auch wegen der zunehmenden Isolierung Israels »in der internationalen öffentlichen Meinung«. Wieder und wieder klagt er über den weltweit anwachsenden Antisemitismus: besorgniserregend an Universitäten in den USA, besorgniserregend in Großbritannien, besorgniserregend in muslimischen Kreisen. Er verweist darauf, dass die US-amerikanischen Juden gespalten seien, spart aber seltsamerweise Deutschland in seinen Aufzeichnungen fast völlig aus.

Friedländer trennt sprachlich zu selten zwischen dem Land und seiner Regierung, schreibt häufig Israel, wenn er das Kabinett von Benjamin Netanjahu meint, und macht damit den Unterschied zwischen einer rechtsradikal dominierten Führungsriege und der Bevölkerung zu wenig deutlich. Das erleichtert jenen Kräften in der öffentlichen Debatte das Handwerk, die jegliche Kritik an der israelischen Regierung mit Antisemitismus-Vorwürfen im Keim ersticken wollen. Als ob Kritik an einer »nationalistischen, rechtsorientierten und seit zwei Jahren auch rechtsradikalen« israelischen Regierung, wie der 80-jährige Historiker Moshe Zimmermann jüngst im Interview der Wochenzeitung »Die Zeit« urteilte, antisemitisch sein müsste. Friedländer spricht undifferenziert vom »Hass auf Israel«, wenn er auf Reaktionen im Ausland zu sprechen kommt, die jedoch die israelische Regierung im Blick haben.

Dabei übt der Autor selbst wie schon im ersten Band seines Israel-Tagebuches auch im zweiten drastische Kritik an Netanjahu und dessen Kombattanten, vor allem an den »Extremisten Ben-Gvir und Smotrich«. Netanjahu sei »schamlos und verabscheuenswürdig«, schreibt er, »ein egozentrischer Betrüger«, »ein verachtenswerter, selbstsüchtiger Typ«. Itamar Ben-Gvir, Minister für die Nationale Sicherheit Israels, nennt er einen »bösen Clown«, einen »Fanatiker« und »Verrückten«. Auch Bezalel Smotrich, »unser verachtenswerter Finanzminister«, sei ein »Fanatiker« und »Verrückter«. Im Epilog spricht Friedländer von einem »ziellosen Krieg«, der einzig Netanjahu dazu dienen soll, »an der Macht zu bleiben, koste es das Land, was es wolle«. Unter dem Datum 16. Mai 2024 notiert er: »Der Premierminister ist bereit, das Land für seine eigenen Interessen zu opfern. Was für eine Schande und was für eine Katastrophe!«

Band zwei des Tagebuchs hat nicht die Qualität des ersten Teils. Friedländer ist zu weit entfernt vom Geschehen. Seine Informationen entnimmt er vor allem den ihm zugänglichen westlichen Medien, gewiss vielfältiger Zeitungslektüre. Letztlich aber ist er ratlos. Damit ist er freilich nicht allein. Angemerkt sei zum Schluss nur noch: Ein strengeres, sorgsameres Lektorat hätte Widersprüche und Wiederholungen eindämmen können.

Saul Friedländer: Israel im Krieg. Ein Tagebuch. A. d. Engl. v. Andreas Wirthensohn. C. H. Beck, 204 S., geb., 24 €.

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