Die AfD radikalisiert nur Positionen der Konservativen

Gängige Erklärungen rechter Erfolge im Osten verklären die Geschichte, meint Alex Demirović

Seit Jahren gehen immer wieder Massen für ein AfD-Verbot auf die Straße.
Seit Jahren gehen immer wieder Massen für ein AfD-Verbot auf die Straße.

Mein Englischlehrer in der Mittelstufe war brutal, er hat Schüler im Unterricht terrorisiert und geschlagen. In Hessen war das an Schulen bis in die frühen 1970er Jahre erlaubt. Er wurde später auch Kreisvorsitzender der CDU und Landtagsabgeordneter. Nach seinem Tod konnte man erfahren, dass er als Freiwilliger zur Waffen-SS gegangen war und an Mordkommandos teilgenommen hatte. Enger befreundet war er wohl mit anderen aus der sogenannten Stahlhelm-Fraktion der hessischen CDU, zu der wohl Alfred Dregger, Alexander Gauland oder Erika Steinbach gezählt werden konnten. Die letztgenannten sind bei der AfD aktiv.

Alex Demirović

Alex Demirović stammt aus einer jugoslawisch-deutschen Familie; der Vater wurde von den Nazis als Zwangsarbeiter verschleppt. Wegen eines politisch motivierten Vetos des hessischen Wissenschaftsministeriums durfte Demirović in Frankfurt nicht Professor werden. Seitdem bewegt er sich an der Schnittstelle von Theorie und Politik. Jeden vierten Montag im Monat streitet er im »nd« um die Wirklichkeit.

Diese Leute arrangierten sich mit der parlamentarischen Demokratie. Ihnen war klar, dass der Faschismus eine Niederlage erfahren hatte und sie sich der militärischen Gewalt beugen mussten. Aber akzeptiert haben sie die Demokratie nicht. Sie war ein formales Gehäuse, das ihre Macht absichern sollte. Nicht ernst und anspruchsvoll gemeint. So wie auch die Aufarbeitung der Vergangenheit nicht wirklich in alle Bereiche der Gesellschaft durchdrang. Das ist ein Milieu, das sich über die Jahrzehnte hindurch reproduzieren, anpassen und verändern konnte. Es hat den NS getragen, es hat die antikommunistische parlamentarische Demokratie aus Bonn unterstützt – jedenfalls, solange die CDU regierte. Die Jahre unter Willy Brandt und Helmut Schmidt empfand sie als die schlimmen zwölf Jahre der deutschen Geschichte.

Heute wird das übersehen, wenn die Wahlerfolge der AfD analysiert werden. Im Osten Deutschlands, so kann man lesen, wären die besser ausgebildeten Frauen in den Westen gegangen und hätten die verunsicherten jungen Männer in ihrer Unsicherheit allein gelassen, die nun keine Freundinnen finden und keine Familien gründen könnten. Es stimmt, Männlichkeit spielt eine Rolle; und Neonazis, die Familien gründen und auf eine Couchgarnitur sparen, werden vom Straßenterror abgebracht. Das heißt aber nicht, dass sie ihre Gesinnung aufgeben oder völlig passiv werden. Die Vorstellung, man könnte Faschisten ihre Gesinnung durch ein bisschen Sozialstaatsmittel abkaufen, ist wenig plausibel. Zudem geht es hier nicht nur um junge Männer. Was ist mit den anderen, denen, die das Wort führen, organisieren, mobilisieren? Auch sie sind unsicher, launenhaft-terroristisch, instabil. Kamala Harris bezeichnet Donald Trump ganz richtig so: instabil und faschistisch.

Was unterstellt eine solche Analyse und was lässt sie alles außer Betracht? Sie legt nahe, dass es am Ende die Schuld der Frauen sein könnte: Was müssen sie sich auch fortbilden und in den Westen gehen? Dabei wird gar nicht erklärt, warum sich die Verunsicherung der jungen Männer antidemokratisch und neofaschistisch ausrichten muss. Warum sie sich nicht fortbilden, sondern sich hinter fragwürdigen, rotzigen, schlechtgelaunten Führungsfiguren gruppieren, die westdeutsche Beamte, Abgeordnete oder Publizisten waren? Nicht einbezogen werden die Aktivitäten der westdeutschen Rechten, die seit den frühen 1990er Jahren in den ostdeutschen Bundesländern aktiv waren, Land und Bauernhöfe kauften, in Dörfern Mehrheiten herstellten, gewaltbereite Netzwerke schufen. In der gleichen Zeit wurden selbstverwaltete Jugendzentren und Treffpunkte von CDU-Regierungen bekämpft, Fördergelder gestrichen und politische Bildungsarbeit erschwert.

Zu erinnern ist an das Instrument der Extremismusklausel, wie sie die damalige Familienministerin Kristina Schröder lancierte, die nun für die »Welt« aktiv ist. Mit polizeilichen und staatsanwaltlichen Mitteln wurden die Linke und die Antifa-Szene verfolgt, die erheblich zur Eindämmung der Rechten und ihrer gewalttätigen Politik beigetragen hatten. Eine Lehre aus den Erfahrungen der Weimarer Republik zog der Historiker Arthur Rosenberg: Die Linke hätte mit ihren Organisationen die NSDAP und deren bewaffnete Verbände wohl schon besiegen können, wenn sich nicht der Staat mit Justiz, Polizei und Militär gegen die Linke gestellt hätte.

In den Analysen kommt es so oft zu einem Kurzschluss: rechte Wahlerfolge im Osten – DDR. Aber die Wahlerfolge hat die Rechte auch in den westlichen Bundesländern und auf Bundesebene. Es werden zudem die langen Jahre der CDU-Regierungspraktiken nicht analysiert: in Sachsen, in Thüringen konnte diese Partei über Jahrzehnte die Strukturen bestimmen und Positionen besetzen.

Die Journalist*innen begreifen ihre eigene Praxis nicht als Problem. Sie wissen zu wenig, sie denken, sie könnten die Rechten in den Interviews entlarven. Aber diese lassen sich nicht in die Falle locken. Der Vorwurf, rechtsextrem zu sein, wird neutralisiert: Na und? Dann bin ich halt rechtsextrem, was wollt Ihr? Der Vorwurf an junge Mitglieder der AfD, antisemitische Lieder zu singen und auf Partys den großen Bevölkerungsaustausch durch Abschiebung zu feiern, wird als wohlverdienter Übermut von jungen Leuten verteidigt, die sich im Wahlkampf für die Demokratie engagiert hätten. Sie verteidigen sich als Demokraten und treten für die Meinungsfreiheit ein. Längst kann die Rechte darauf verzichten, Auschwitz zu leugnen. Das kränkt den nationalen Narzissmus nicht mehr. Die Juden wurden ja vertrieben und vernichtet, und mit der rechten israelischen Regierung und ihren Anhängern in Deutschland ist man sich einig, dass die Linken und die Muslime die heutigen Antisemiten seien, die bekämpft werden müssten.

Es wird so geredet, dass sich die CDU/CSU der AfD anpassen würde, wenn sie sich gegen die Flüchtlinge, gegen Asylbewerber wendet. Aber das ist zu harmlos, es ist wohl umgekehrt. Die AfD radikalisiert, was seit vielen Jahren von den Konservativen vertreten wurde: Ausländer raus, und der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Helmut Kohl wollte die Wiederbelegung nationaler Werte, die Erinnerungskultur sollte auch die Angehörigen der Waffen-SS einschließen. Die Ablehnung von Angela Merkel durch Friedrich Merz, Jens Spahn oder die Bild-Zeitung ist sicherlich auch der Tatsache geschuldet, dass Merkel die CDU von jener Politik der geistig-moralischen Wende wegführte und damit die Abspaltung der AfD ermöglichte.

Die Parteien, die Medien, sie nehmen die Überlegung von Theodor W. Adorno nicht ernst. Danach sind es nicht so sehr die Ewig-Gestrigen, von denen die Gefahr ausgeht. Vielmehr sind es die autoritären Tendenzen, die sich in der Demokratie selbst erneuern. Von den Verhältnissen, unter denen sich die Rechte erhält und erneuert, wird nicht gesprochen. Vielmehr werden die demokratischen Institutionen so umgebaut, dass die Rechte auf Dauer nicht mehr abgewählt wird und abgewählt werden kann. Die »Machtergreifung« kommt schleichend, normalisiert sich, die Ausnahmeherrschaft durchdringt die Institutionen. Faschismus ist wie eine weitere Meinung im Pluralismus der Talkshows.

Die Kritik an der Ampel-Koalition und die Rücktrittsforderungen fühlen sich an wie die Aufforderung zum Handeln jenseits der Verfassungsnormen. Die Rechte – und darin ist sie sich mit allen konservativen Kräften von CDU bis BSW einig – verhindert die Einsicht in die großen gesellschaftlichen Herausforderungen: den sozial-ökologischen Umbau des Produktionsapparats, die Gestaltung einer neuen Lebensweise, die Organisation neuer Formen der Mobilität. Anstatt Verhältnisse zu ändern, werden Personengruppen zu Feinden erklärt: wie eh und je die Schwachen, die Minderheiten, also die Flüchtlinge, die LGBT-Gruppen, die Muslime.

Die Rechte weiß, dass es so nicht weitergehen kann. Aber sie trägt nicht zur Aufklärung bei, sondern zum nationalistischen und rassistischen Ressentiment; nicht zu einem intellektuellen Verständnis, das die Menschen auf die Höhe der Herausforderungen bringt, sondern Emotionalisierung und Aggression. Die Lösung soll sein, um natürliche Ressourcen und gesellschaftlichen Reichtum zu kämpfen. Dafür wird, wie schon einmal, die Vernichtung vieler Menschenleben und sogar dystopisch der Untergang in Kauf genommen.

Ein Verbot der AfD ist notwendig. Nicht, weil damit die Einstellungen bei den Individuen weg wären. Aber sie wären nicht mehr organisiert. Sie würden nicht mehr öffentlich bestätigt und bekräftigt. Organisatorische Zusammenhänge und Bündniskonstellationen würden geschwächt.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.