- Politik
- Gesellschaftliche Teilhabe
Gesprächsprojekt in Dresden: Straßenbahndemokratie
»Metro Polis« schafft einen rollenden Ort für Austausch und Verständnis
Als die Frau auf dem Vierersitz der Dresdner Straßenbahnlinie neun Platz nimmt, liegt ihr Zeigefinger schon wie ein Lesezeichen zwischen den Seiten ihres Buches. Gerade als sie es aufschlagen möchte, spricht ihre Sitznachbarin sie an: »Hallo, wir sind ein Gesprächsprojekt. Sie können gerne mitmachen, natürlich nur, wenn sie Lust haben.« Danach scheint es zuerst nicht, sie wolle lieber lesen, sagt die Frau. Doch dann bleibt das Buch zu, der Finger zwischen den Seiten, und es entsteht eine Unterhaltung.
Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.
Aufsuchende Demokratiearbeit in Straßenbahnen
In der Straßenbahn mit Fremden reden? Genau das ist die Idee hinter »Metro Polis«, einem Projekt zur »aufsuchenden Demokratiearbeit in Straßenbahnen«, wie es Gründerin Kristina Krömer nennt. Sie ist die Sitznachbarin, die die Frau mit dem Buch angesprochen hat. Als gerade niemand neben ihr Platz nehmen möchte, erzählt sie dem »nd« von der Idee. Die kam ihr als Reaktion auf die ersten Pegida-Demonstrationen in Dresden inmitten eines aufgeheizten gesellschaftlichen Klimas – sie beobachtete, wie es Menschen unterschiedlicher politischer Meinungen immer schwerer fiel, sich zu unterhalten.
Krömer ist überzeugt: Straßenbahnen sind der perfekte Ort, um das zu ändern. Denn ein großer Teil der Gesellschaft nutzt sie regelmäßig. »Außerdem können die Leute ja nicht weg und haben während der Fahrt meistens sowieso nichts zu tun«, sagt die Politikwissenschaftlerin.
Von der Idee zur Realisierung dauerte es knapp vier Jahre, denn Krömer fand keine Partner für das Projekt; kaum einer wollte sich freiwillig hitzigen und möglicherweise sogar gefährlichen Situationen aussetzen. »Alle sagten mir, so ein Projekt funktioniert nur unter Polizeischutz«, erinnert sich Krömer. Als sich dann doch ein kleines Grüppchen gefunden hatte – 2019 war das – bereitete es sich in Rollenspielen auf eskalative Szenarien vor.
Ein wohlwollendes Gespräch als Sicherheitskonzept
Doch die ersten Fahrten blieben ruhig, und so ist es bis heute. Auch Nils, der an diesem Tag mitfährt und Leute dazu animiert, an den Gesprächsrunden teilzunehmen, sagt: »Es ist überraschend, wie wenig ausfallende Kommentare wir hören.« Das habe natürlich auch damit zu tun, dass nur dialogbereite Personen an den Gesprächen teilnehmen. Aber es gibt einen weiteren Grund, ist sich Krömer sicher: »Wir fragen die Leute hier nicht nach ihren Meinungen, die sich möglicherweise über Jahre verfestigt haben, sondern nach ihren konkreten Erfahrungen«. Außerdem helfe die ungewöhnliche Nähe, die in der Straßenbahn entsteht. »Unser bestes Sicherheitskonzept ist das nette, wohlwollende Gespräch.«
»Wir fragen die Leute hier nicht nach ihren Meinungen, sondern nach ihren Erfahrungen.«
Kristina Krömer Gründerin von Metro Polis
Das Thema heute: die kommunale Wärmewende in Dresden. Eine 17-jährige Jugendliche ist dem Angebot gefolgt, sich zu Krömer zu setzen und mit ihr zu reden. Sie ist sich unsicher, was sie beitragen kann: »Ich habe keine Ahnung von dem Thema.« Krömer beruhigt sie: »Das ist genau richtig.« Dann stellt sich heraus, dass die junge Gesprächspartnerin doch Bescheid weiß, etwa über das Heizsystem ihrer Wohnung; und der schnelle Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen ist ihr auch wichtig. Auf die Frage, wer dafür aufkommen soll, sagt sie: »Schwierig.«
Die Antworten tippt Krömer in ein Tablet ein. Dort finden sich auch Vorschläge aus vergangenen Gesprächen wieder. Die Einführung einer Reichensteuer etwa. Krömers nächster Gesprächspartner trägt eine schwarze Weste mit Ansteckern und ausgefransten Flicken. Er wünscht sich als Mieter mehr Mitbestimmungsrecht bei der Frage nach dem richtigen Heizstoff. Als die beiden auf mögliche Lösungen zu sprechen kommen, muss er aussteigen.
»Es ist überraschend, wie wenig ausfallende Kommentare wir hören.«
Nils arbeitet bei Metro Polis
Warum geht es heute ausgerechnet um die städtische Wärmepolitik? Die Themen, über die sich Krömer und ihr Team unterhalten, kommen von der Stadtpolitik. Diese begleitet das Projekt mit großem Interesse. Schließlich ist es wertvoll, zu wissen, was die Stadtbevölkerung zu sagen hat. Doch das war nicht immer so. »Wir sind als Projekt für gesellschaftlichen Zusammenhalt und aktive Teilhabe gestartet«, so Krömer. »Mittlerweile arbeiten wir daran, eine kommunikative Schnittstelle zwischen Politik und Gesellschaft zu werden.« Das läuft so ab: kommunale Verantwortungsträger schlagen Metro Polis ein Thema vor. Das Team spricht darüber mit Menschen in der Straßenbahn, wertet die Ergebnisse aus und teilt diese mit der Politik.
Besuch vom Kanzler
Längst hat das nach eigenen Angaben weltweit einzigartige Projekt größere Wellen geschlagen. 2023 erhielt Metro Polis den Deutschen Engagementpreis, im Februar stieg Olaf Scholz mit in die Straßenbahn ein und Krömer wird bundesweit eingeladen, ihre Idee zu teilen. Inzwischen finden die Straßenbahngespräche auch in Leipzig und der Lausitz statt. Auch im IC von Dresden nach Berlin oder Erfurt hat Krömer das Format schon erprobt. Und noch in diesem Jahr sollen Partnerprojekte in Berlin und München anlaufen. 2025 soll Chemnitz folgen.
Die Straßenbahnlinie neun nähert sich ihrem Ziel. Zweimal ist das dreiköpfige Team heute von Endhaltestelle zu Endhaltestelle gefahren. Ein kleiner Handzähler zeigt die Zahl 139 an, so viele Personen haben sie heute angesprochen. 23 davon sind der Einladung gefolgt. Ein ruhiger Tag für Metro Polis, normalerweise ist mehr los. »Ich kam gerade von der Arbeit und hatte eigentlich überhaupt keine Lust, mich zu unterhalten«, sagt eine der letzten Teilnehmerinnen nach dem Gespräch. »Aber das war ja dann richtig cool!« Sie steht auf und geht Richtung Ausgang. Bevor sich die Türen schließen, dreht sie sich um und sagt anspornend: »Weiter so!«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.