- Kultur
- DDR versus BRD
Wer hat die Nase vorn?
Eine Konferenz in Berlin wagte den Vergleich beider deutschen Staaten hinsichtlich ihrer Erbschaften
Keep the Soviet Union out, the Americans in and the Germans down.« Dies deklarierte klar und unzweideutig der britische Baron, Hastings Lionel Ismay, 1952 bis 1957 erster Nato-Generalsekretär. Die Sowjetunion respektive Russland aus europäischen und Weltangelegenheiten rauszuhalten, die USA hingegen als Hegemon zu akzeptieren und die Deutschen zu deren willigen Vollstrecker zu degradieren, scheint bis in die Gegenwart hinein in den Köpfen von Nato-Generälen zu spuken. Ismay, Minister im zweiten Kriegskabinett Churchills, war übrigens auch maßgeblich an der Planung eines von seinem Chef selbst in Auftrag gegebenen Angriffsplans gegen den damaligen Noch-Verbündeten in der Antihitlerkoalition, die UdSSR, beteiligt; dieser trug den bemerkenswerten Codenamen »Operation Unthinkable«. Undenkbar ist heute nichts mehr.
Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.
Ein Dreivierteljahrhundert zu reflektieren, nahm sich dieser Tage eine Konferenz in Berlin vor, ausgerichtet vom Bildungsverein Helle Panke. Ein ehrgeiziges Programm. Deutsche Alternativen 1945 und 1949, dem Gründungsjahr beider deutscher Staaten, sowie 1989/90 und hernach wollte man diskutieren, Ansprüche, Hoffnungen und Versagen von drei deutschen Staaten kritisch unter die Lupe nehmen.
Den Input gab Stefan Bollinger, Spiritus Rector der Tagung. Chancen für alternative Weichenstellungen habe es immer gegeben, ist der Berliner Historiker überzeugt, sie wurden nur unzureichend genutzt, stießen mitunter aber auch an Grenzen, nicht nur subjektive, sondern auch objektive, »des real Machbaren«. Diesen Befund traf er vor allem mit Blick auf die DDR, etwa im Hinblick auf das 1963 mit dem Segen des damaligen Partei- und Staatschefs Walter Ulbricht gewagte Neue Ökonomische System der Planung und Leitung (NÖS), das jedoch bereits zwei Jahre darauf auf Moskauer Druck abgebrochen wurde, hintertrieben aber auch von bereits mit den Hufen scharrender, selbst an die Spitze der Macht in Partei und Staat drängender zweiter Garnitur der SED-Kader. Obwohl die Herausforderungen der wissenschaftliche-technischen Revolution nicht nur von klugen Köpfen der Wirtschaftswissenschaften begriffen und beispielsweise mittels der Kybernetik ansatzweise zu bewältigen versucht wurden, sah die Riege um Erich Honecker in einer Verabschiedung vom zentralistischen Wirtschaftssystem einen Angriff auf die Allwissenheit der Partei. Diese Angst motivierte auch zwanzig Jahre später deren strikte Ablehnung der Reformpolitik von Michael Gorbatschow in der Sowjetunion.
Als eine positive Hinterlassenschaft wertete Bollinger die Sozialpolitik der DDR, gleichwohl auch sie nicht ganz frei war von Fehl und Tadel. Im ostdeutschen Staat wurde sozialen Freiheiten und Rechten mehr Augenmerk als individuellen geschenkt, in der Bundesrepublik ging und geht es um individuelle und in erster Linie um unternehmerische Freiheiten.
Dass auch die Geschichte der Bundesrepublik von den ehemaligen Besatzungsmächten beeinflusst wurde, wenngleich nicht in dem Maße wie die DDR von der sowjetischen Siegermacht des Zweiten Weltkrieges, und auch hier konservative Kräfte eine progressive Entwicklung vereitelten, verdeutlichte Frank Deppe, emeritierter Professor aus Marburg. Er erinnerte an seinen akademischen Lehrer Wolfgang Abendroth, der Rechts- und Sozialstaat zu verbinden hoffte, was jedoch letztlich am ungebrochenen Einfluss alter NS-Eliten wie dem Staatsrechtler Carl Schmitt (»Der totale Staat«) scheiterte. Deppe verwies auf drei Jahre vor der Gründung der Bundesrepublik erlassene und noch heute gültige westdeutsche Landesverfassungen mit antifaschistisch-demokratischem Impetus wie etwa die nordrhein-westfälische oder baden-württembergische, insbesondere jedoch die hessische, in der Volksabstimmung, Enteignung, Überführung in Gemeineigentum und Verstaatlichung von Unternehmen, Großbanken und Großgrundbesitz wie auch Verkehrswesen und Versicherungen bei Missbrauch fixiert sind. Wovon man heute mit Fug und Recht vielfach sprechen kann. »Also, lasst uns diese Verfassungen umsetzen«, rief Deppe mit Verve aus. Man kann ihm nur zustimmen, zumal das Kapital just, vor den jeweils separaten Treffen des Kanzlers, seines Wirtschaftsministers und seines Finanzobmanns mit dem Unternehmertum, ungeniert fordert, »von der Kette gelassen zu werden«. Welche Kette, bitte?
Zu den bereits vom Marburger Politologen gewürdigten, von den westlichen Alliierten sowie deutschen Konservativen ausgebremsten Antifaschisten der ersten Stunde im Westen Deutschlands fügte Jörg Wollenberg weitere Namen hinzu, vom Buchenwaldhäftling Hermann Brill, der am ersten Entwurf des Grundgesetzes (GG) beteiligt war, und Willy Brandt, dem ersten sozialdemokratischen Kanzler, über Franz Neumann und Jürgen Kuczynski, beide jüdischer Herkunft und im Krieg für den US-amerikanischen Geheimdienst Office of Strategie Services (OSS) tätig, bis hin zum Schriftsteller Peter Weiss (»Die Ermittlung«, »Ästhetik des Widerstands«). Der ehemalige Dozent an der Universität Bremen sowie Direktor von Volkshochschulen in Bielefeld und Nürnberg hat selbst noch Interviews mit den einstigen Akteuren in Ost und West führen können.
Die Einbindung beider deutscher Staaten zu Zeiten der Blockkonfrontation in die konträren Militärbündnisse skizzierte Lothar Schröter. Der Militärhistoriker betonte, dass die Wiederbewaffnung zunächst im Westen erfolgte, erst danach die DDR mit der Aufstellung eigener Streitkräfte nachzog. Während die Bundeswehr in der Nato »zu einem fast gleichberechtigten Partner« avancierte, stand die Nationale Volksarmee (NVA) – nicht wie ihr westdeutsches Pendant unter parlamentarischer Kontrolle und entgegen ihrem Namen eher eine Parteiarmee – unter strikter Militärhoheit der Sowjetgeneräle im Warschauer Vertragsbündnis. Dafür wurde im Osten Deutschlands radikal mit militaristischen Traditionen preußisch-deutscher Geschichte gebrochen (ausschließlich der Uniform). Die NVA war im Gegensatz zur Bundeswehr zu keiner Zeit für einen Einsatz im Innern vorgesehen, was sich im Herbst 1989 als Glück erweisen sollte, und auch in keinerlei bewaffnete Auslandseinsätze involviert. Als Verstoß gegen den die deutsche Einheit ermöglichenden Zwei-plus-Vier-Vertrag prangerte Erhard Crome, Direktor des WeltTrends-Instituts für Internationale Politik und Mitbegründer des gleichnamigen außenpolitischen Journals, die Eröffnung eines Nato-Kommandos dieser Tage in Rostock an: »Ein Kommando ohne Truppe ist doch Quatsch.« Der Gründungsvertrag des vereinten Deutschlands hatte zugesichert, dass auf deutschem Boden östlich der Elbe keine ausländischen Nato-Einheiten präsent sein würden.
Ein aktuell heißes Eisen packte Sabine Kebir an: die beiden deutschen Staaten, der Nahe Osten und Israel. Die Literaturwissenschaftlerin zitierte den Dichter Johannes R. Becher, der 1947 die »systematische Auslöschung der jüdischen Mitbürger eine Last« nannte, »die noch lange bleibt«: »Es sind Dinge geschehen, die die Betroffenen nicht vergessen können.« Das zunächst positive Verhältnis zum jüdischen Staat sei dann durch die von Moskau aus inszenierten Schauprozesse und Kampagnen gegen Westemigranten überschattet worden. Die Wiedergutmachungspolitik der Bundesrepublik gegenüber Israel erfolgte aus pragmatischen Gründen, zur Wiederaufnahme in die internationale Staatengemeinschaft. Kebir zitierte Äußerungen von Adenauer, die von Antisemitismus strotzten, zum Beispiel 1965 im Gespräch mit dem Journalisten Günter Gaus: »Die Macht der Juden auch heute noch, insbesondere in Amerika, sollte man nicht unterschätzen.« Dass in der DDR der millionenfache Mord an den Juden (heute als Holocaust oder Shoah bezeichnet) nicht thematisiert wurde, bestritt Kebir vehement.
Im Vergleich der alten (und neuen) Bundesrepublik mit der DDR punktet letztere vor allem im sozialen Bereich, Ostdeutschen noch heute in positiver Erinnerung. Das betrifft insbesondere die Frauenemanzipation, die bereits in den 50er Jahren kodifizierte Gleichstellung, 90-prozentige weibliche Erwerbstätigkeit und damit auch ökonomische Unabhängigkeit, nicht zuletzt dank Krippen, Kindergärten und Gesamtschulen mit Hortbetreuung, die 1972 erfolgte formale Streichung des Strafparagrafen 218 etc. Die Medizinethikerin Viola Schubert-Lehnhardt aus Halle verschwieg nicht die Dreifachbelastung der DDR-Frau mit Beruf, Haushalt und Kindern; auch hat es in der DDR Gewalt in der Ehe gegeben. Es war indes für die Frau in der DDR leichter, vor Gericht zu ihrem Recht zu gelangen.
Das Gesundheitswesen der DDR könne generell trotz manch ungenügender technischer Ausstattung als vorbildlich gelten, meint Heinrich Niemann, 1986 bis 1990 Geschäftsführer der DDR-Sektion der Internationalen Ärztebewegung gegen den Nuklearkrieg (IPPNW). Er würdigte die Polikliniken (die heute als Ärztehäuser weiterleben), Vorsorge- und Reihenuntersuchungen, die Facharztausbildung, Kinderheilkunde, das international viel beachtete Krebsregister und die Widerspruchslösung, die in der Bundesrepublik immer noch diskutiert wird. »Die Defizite in der Bundesrepublik sind nicht zu rechtfertigen.« Das Übel sieht der Arzt im Diktat des Profits. Und: »Vieles wäre machbar, wenn der politische Wille da wäre.«
Interessant war die Auflistung der Gewinne und Verluste deutscher Einheit in Ost und West, die Ulrich Busch, ehemaliger Direktor des Instituts für Volkswirtschaftslehre an der Humboldt-Universität zu Berlin, streng buchhalterisch vornahm. Der Osten ist, wen wundert’s, trotz gestiegener Lebensqualität und zunehmenden Wohlstand der große Verlierer. Zwar habe man auf immaterieller Seite von der Einheit profitiert. »Doch für den, der keine Arbeit oder nur eine schlecht bezahlte hat, für den sind die neu gewonnenen Freiheiten wie Reisen eine Chimäre.« Eindeutige Gewinner sind westdeutsche Unternehmen, nicht die westdeutsche Bevölkerung, auch nicht deren Landeshaushalte. Transferleistungen, Länder-Finanz-Ausgleich und Solidarpakt sind keine großzügigen Gaben, haben die Ostdeutschen selbst bezahlen müssen. Und inwieweit ist die aus Mitteln für den »Aufbau Ost« finanzierte Sanierung der Autobahn von München über Nürnberg in die Bundeshauptstadt, nach Berlin, der ostdeutschen Bevölkerung zugutegekommen?
Besonders in den Vermögensverhältnissen zeigt sich eine große Kluft. Die Währungsunion glich einer Enteignung, traf besonders die Mittelschichten, Handwerker und andere Kleinunternehmer, deren bescheidenes Kapital halbiert wurde. Der jährliche Bericht der Bundesregierung zum Stand der deutschen Einheit, so Busch, vergleiche nicht Vergleichbares, »was sinnlos ist«. Bei den neun von ihm aufgestellten realen Vergleichspunkten ist Ostdeutschland bei sieben unleugbarer Verlierer. Hinzu kam (zehntens) Identitätsverlust mit Arbeitslosigkeit, erzwungene Umorientierung im Beruf und Abwertung von Lebensleistungen, was für viele Ostdeutsche immer noch schwerer als materielle und andere immaterielle Gewinne wiegt.
Die Mehrheit der DDR-Bürger habe sich aber letztlich nach der westlichen Warenwelt gesehnt, konstatierte Anna Stiede, »in Jena geboren und vom ostdeutschen Abfuck der Wendejahre geprägt«, wie sich die Performerin und Mitglied des Theaterkollektivs Panzerkreuzer Rotkäppchen auf ihrer Homepage selbst vorstellt. »Ja, es war im Herbst ’89 ein revolutionär-demokratischer Aufbruch, eine gescheiterte Revolution. Die Wiedervereinigung brachte die nationale Restauration des Kapitalismus und neue Gängelei.« Was für den beängstigenden Rechtstrend heute mitverantwortlich sei. Michael Klundt, seit 2010 Professor an der Hochschule Magdeburg-Stendal, registrierte erste Reichskriegsflaggen in Ostdeutschland bereits im November 1989, kurz nach dem Mauerfall. Für ihn verblüffend vor allem, wie rasch »ultralinke Antideutsche aus der alten Bundesrepublik zu ultrarechten Nationalisten« mutierten: »Das muss man erst einmal schaffen.« Nicht weniger überraschend für ihn die Wendung des Olaf Scholz, der vor 40 Jahren noch von »aggressiver Nato-Strategie« sprach und heute von »Zeitenwende« redet, die Aufrüstung erfordere.
Lukas Meisner, der jüngste in der Runde der Referenten, ab 2025 Herausgeber der Zeitschrift »Argument«, schlug den Schlussakkord salomonisch an: »Wie wir Geschichte erzählen, öffnen sich Gegenwart und mögliche Zukünfte. Oder verunmöglichen diese.«
Der Leser und die Leserin mögen selbst entscheiden, wer im Vergleich beider deutscher Staaten hinsichtlich positiver oder negativer Erbschaft die Nase vorn hat.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.