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In einer nicht so freien Welt

Lenka Tyrpáková betreut beim Filmfest Cottbus die Sektion »Der weibliche Blick« mit dem Fokus auf Tschechien. Ein Gespräch

  • Interview: Susanne Gietl
  • Lesedauer: 6 Min.
In Michaela Pavlátovás Animation »My Sunny Maad« beschließt eine tschechische Studentin, nach Kabul zu ziehen, und entdeckt dort eine ganz neue Welt.
In Michaela Pavlátovás Animation »My Sunny Maad« beschließt eine tschechische Studentin, nach Kabul zu ziehen, und entdeckt dort eine ganz neue Welt.

Dieses Jahr steht beim Filmfestival Cottbus neben Armenien (in der Sektion »Close Up«) auch die Tschechische Republik im Fokus. Was ist typisch für tschechischen Film?

Unser Humor ist oft sehr düster und geht von tragikomischen Situationen aus. Im Wettbewerb läuft zum Beispiel Adam Martinecs »Our Lovely Pig Slaughter«, der an die tschechoslowakische Neue Welle der 60er Jahre erinnert. Es ist Tradition, dass die ganze Familie einmal im Jahr zusammenkommt, um der Schlachtung eines Schweines beizuwohnen. Im Film zeichnet Martinec ein Sittenbild von Familie und Menschen, die nicht in der Lage sind, miteinander zu kommunizieren.

Sie moderieren ein Panel zur Studie »Frauen in der audiovisuellen Industrie: Spielfilm« in der tschechischen Filmindustrie. Die Regisseurinnen Cristina Groşan (»Ordinary Failures«) und Apolena Rychlíková (»Limits of Europe«) diskutieren mit Hana Voleková, der Co-Autorin der Studie, über den Status von Frauen im Filmbusiness. Wie hat sich die Branche im Laufe der Zeit verändert?

Wenig. Die Studie war sehr frustrierend für mich. Die Ergebnisse haben gezeigt, dass sich der Anteil von Frauen in den Gewerken Regie, Drehbuch, Produktion, Kamera und Schnitt kaum erhöht hat. Der Frauenanteil lag in den 90er Jahren bei circa 16 Prozent und zwischen 2018 und 2022 bei 20 Prozent. Aber allein die Tatsache, dass der Produzentenverband diese Studie in Auftrag gegeben hat, ist ein wichtiger Schritt nach vorn. Wir haben die Daten und wir wissen, dass die Situation nicht gut ist. Jetzt ist es an der Zeit, endlich zu handeln.

Interview

Lenka Tyrpáková wurde in Prag geboren. Von 2005 bis 2023 war sie Mitglied des Auswahlkomitees des Internationalen Filmfestivals Karlovy Vary und Programmgestalterin für Filme aus Mittel- und Osteuropa und dem Balkan. Seit 2008 arbeitet sie als Programmleiterin für das Prague Shorts Film Festival. Im Jahr 2023 wurde sie künstlerische Leiterin des tschechischen nationalen Finále Festivals in Pilsen.

Daria Kascheeva präsentiert ihren Kurzfilm »Electra« in der Sektion »Der weibliche Blick«. Für den Film wurde sie dieses Jahr mit dem Böhmischen Nachwuchs-Löwen ausgezeichnet. Bei der Preisverleihung hat sie eine große Diskussion angestoßen.

Die Rede von Daria Kascheeva wurde live im tschechischen Fernsehen übertragen und sie hat die Zeit genutzt, um darüber zu reden, dass ihre Eierstöcke langsam in die Jahre kommen und sie auch deswegen darüber nachdenke, ein Baby zu bekommen. Jedoch sei sie sich nicht sicher, ob die Industrie Platz für eine berufstätige Mutter habe. Nach zwei Minuten Redezeit (die Zeit, die man für die Rede hat) hat dann jemand gerufen: »Das wird jetzt zu lang. Hören Sie auf!« Kascheeva ist vor Schock wie angewurzelt stehen geblieben und hat die Bühne verlassen. Es war eine ganz komische Stimmung. Die Leute haben sich danach darüber beschwert, dass Kascheeva dankbar sein sollte, dass sie den Preis bekommen habe. Leute haben angemerkt, dass das nicht der richtige Anlass sei, um über persönliche Sorgen zu sprechen. Ich finde, das war exakt der richtige Ort dafür, weil die ganze Filmindustrie anwesend war.

Wie haben Sie die Filme für die Sektion »Der weibliche Blick« ausgewählt?

Ich wollte die tschechische Filmszene der letzten zwei, drei Jahre in ihrer größtmöglichen Bandbreite abbilden und zeige sieben Langfilme und ein Kurzfilmprogramm. In der Sektion begegnen wir starken Frauenfiguren, Selbstermächtigung stellt ein großes Thema dar. Natálie Císařovská erzählt in »Her Body« von einer Turmspringerin, die sich kurz vor den Olympischen Spielen verletzt und die Entscheidung trifft, in die Pornoindustrie zu wechseln. Die Protagonistin in Michaela Pavlátovás Animation »My Sunny Maad« beschließt aus eigenen Stücken, mit ihrem Liebsten nach Kabul zu ziehen und entdeckt dort eine ganz neue Welt.

Die Auswahl ist vielfältig. Beata Parkanovás »Tiny Lights« holt uns in die Fantasiewelt eines kleinen Mädchens, Veronika Lišková begleitet in »Year of the Widow« eine Anfang 40-jährige Witwe, und in Cristina Groşans »Ordinary Failures« treffen brutalistische Gebäude auf Retrofuturismus, zwei Dokumentarfilme haben Sie auch im Programm. Wovon handeln die Filme?

Klára Tasovskás »Noch bin ich nicht, wer ich sein möchte« handelt von dem Lebensweg einer Fotografin. Es ist ein dokumentarisches Porträt der berühmten tschechischen Fotografin Libuše Jarcovjáková, die in den späten 60er Jahren berühmt wurde. Die Regisseurin und ihr Cutter (Alexander Kashcheev) wählten mit Jarcovjáková aus Tausenden von Fotos diejenigen aus, die für ihre Geschichte am repräsentativsten sind. Vor dem Fall des Kommunismus suchte Jarcovjáková in den 70er und 80er Jahren in einer nicht so freien Welt nach Freiheit. Schaut man sich in Polen, Ungarn, Georgien um, dann ist auch heute noch die Rede- und Meinungsfreiheit eingeschränkt.

Apolena Rychlíkovás Dokumentarfilm »Limits of Europe« berichtet über Wirtschaftsmigration in Europa. Auch Deutschland kommt vor…

Der Dokumentarfilm öffnet einem wirklich die Augen, indem er zeigt, was wirklich hinter westlichem Wohlstand steckt. Die Journalistin Saša Uhlová reist in verschiedene Länder in Westeuropa und deckt mit versteckter Kamera die miserablen Bedingungen auf, unter denen Wirtschaftsmigrantinnen und Migranten arbeiten. Apolena Rychlíková ist Tschechin, aber viele ihrer Kolleginnen kommen aus anderen Ländern, was die Szene sehr divers macht. Zum Beispiel kommt Pola Kazak, die in dem Animationsfilm »Weeds« die Angst vor dem Unbekannten thematisiert, aus Russland, Leila Basma (»Sea Salt«) stammt aus dem Libanon, Daria Kascheeva (»Electra«) ist in Tadschikistan geboren und Cristina Groşan (»Ordinary Failures«) in Rumänien. Die neuen kulturellen Einflüsse stärken das Kino und machen es auch für das internationale Publikum interessanter.

Welche Filme auf dem Festival können Sie empfehlen?

Mir hat neben dem Eröffnungsfilm »My Late Summer« von Oscar-Preisträger Danis Tanović auch Assel Aushakimovas »Bikechess« sehr gut gefallen. Es gibt nicht viele Filme aus Kasachstan, besonders nicht von Regisseurinnen. »Bikechess« behandelt die Situation in einem autoritären Staat mit einem gewissen absurden Humor. Natürlich sollte man »Our Lovely Pig Slaughter« sehen und den polnischen Film »Under the Volcano« von Damian Kocur: Darin geht es um eine ukrainische Familie, die Urlaub auf Teneriffa macht. Dann erfährt sie, dass in der Ukraine gerade der Krieg begonnen hat. Es ist auch ein Coming-of-Age-Film, weil der Fokus auf der älteren Tochter liegt.

Was schätzen Sie an der Arbeit für das Filmfestival Cottbus?

Das Festival leistet großartige Arbeit bei der Förderung des Kinos aus unserer Region. Arthouse- wie auch Mainstream-Filme werden gleichermaßen gezeigt. Dass das Festival in Ostdeutschland stattfindet, auch in Hinblick auf die dort lebende slawische Minderheit, ist wirklich wichtig. Ich mag den persönlichen Austausch an den Festivaltagen sehr. Es ist toll zu sehen, wie unterschiedlich ein Film interpretiert werden kann und welcher Film gut beim Publikum ankommt und warum. Deshalb gehe ich gerne ins Kino und beobachte, wie das Publikum reagiert. Nicht nur bei den tschechischen Filmen.

Das Filmfestival Cottbus findet vom 5. bis 10. November statt. Mehr Infos unter:www.filmfestivalcottbus.de

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