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Wie creepy war Gandhi?
Befreites Schreiben über die Befreiung vom Kolonialismus: »Antichristie« von Mithu Sanyal ist ein schwindelerregender fantastischer Roman
Als ich vor dreieinhalb Jahren über Mithu Sanyals Debüt »Identitti« in dieser Zeitung schrieb, lautete die erste Zeile: »Die Geschichte ist schnell erzählt.« Davon kann keine Rede mehr sein. Worum es in »Antichristie«, ihrem kürzlich erschienen zweiten Roman, geht? Herrje, wo soll man da anfangen.
Vielleicht am Schluss. Dort ist ein als Abspann bezeichnetes Nachwort der Autorin eingewebt in den Romantext, der dann plötzlich doch weitergeführt wird und dem furiosen Ende noch eins draufsetzt. So geht das 550 Seiten lang: Immer wird noch eins draufgesetzt.
»Antichristie« beginnt als schwarzhumorige Familiengeschichte – die deutsche Mutter von Durga ist tot, die Zeremonie zum Verstreuen ihrer Asche läuft nicht ganz nach Plan. Durga, deren Vater Inder und deren Beruf Drehbuchautorin ist, bricht anschließend nach London auf, wo sie gemeinsam mit anderen Autor*innen in einem Writers’ Room eine nichtrassistische Agatha-Christie-Verfilmung entwickeln soll. Dagegen hat sich natürlich längst Protest formiert (»Agatha Christie Opfer von Cancel Culture«), und dann stirbt auch noch die olle Queen. Im Writers’ Room werden Fragen rund um Identität, Kolonialismus und Rassismus debattiert, was kurzzeitig sehr an »Identitti« erinnert.
Aber dann! Geht es erst richtig los: Durga macht unter mysteriösen Umständen eine unverhoffte Zeitreise und landet im London des Jahres 1906. Wobei das, genau genommen, nur für ihren Geist zutrifft: Sie findet sich erschlankt und um Jahrzehnte verjüngt im Körper eines Mannes, Sanjeev nennt sie ihn beziehungsweise sich, wieder.
Die/der verständlicherweise recht orientierungslose Durga/Sanjeev landet schnell in India House, einer Wohngemeinschaft für wohlhabende junge indische Männer mitten in London. Wie sich bald herausstellt, sind diese Männer Revolutionäre, die am Sturz der Kolonialherrschaft des Empires in Südasien arbeiten, und zwar nicht nur, indem sie sich durch Tennis fit für den Aufstand halten, sondern auch und vor allem mit Waffen. In India House werden Pistolen geschmuggelt und Bomben gebaut. Moment mal: bewaffneter Befreiungskampf und Indien?
Durga/Sanjeev, die/der die Geschichte der indischen Freiheitsbewegung – 1906 noch Gegenwart und Zukunft – zu kennen glaubt, wird in India House eines Besseren belehrt. Oder wie die Autorin, deren eigenes Erstaunen hier durch die Protagonistin spricht, im Abspann schreibt: Für sie sei es immer erleichternd gewesen, dass »wir Inder« den »richtigen, den gewaltfreien Widerstand« geleistet hätten. Doch das, so hat Mithu Sanyal gelernt, und so lernen wir es in »Antichristie«, ist eben nur die halbe Wahrheit.
Und Gandhi vielleicht gar kein Heiliger? Der Oberboss des gewaltlosen Weges, der 1906 den Ehrentitel Mahatma nicht trägt, weil er noch nicht der Gandhi geworden ist, den Durga/Sanjeev als historischen Helden kennt, taucht auch in India House auf – und entpuppt sich als »creepy« Typ. Anders als Vinayak Damodar Savarkar, von dem sich Durga/Sanjeev sofort angezogen fühlt und zu dem sie/er eine intime Beziehung entwickelt. Was nicht minder schockierend ist als der unheimliche Gandhi, denn auch von Savarkar weiß Durga/Sanjeev, was er später werden wird: der geistige Vater des Hindunationalismus, auf den – auch in der echten Welt – Indiens Regierungschef Narendra Modi und seine BJP ihren muslimfeindlichen, faschistoiden Kurs ideologisch betten. Durga/Sanjeev kennt Savarkar als »Hindu-Hitler« – aber 1906 ist er das noch nicht: »Die Menschen hinter ihrer Theorie sind stets so viel widersprüchlicher, tragischer, wunderbarer und ja, auch, schrecklicher.«
Durch die Diskussionen um die richtige Strategie, denen Durga/Sanjeev in India House beiwohnt, erfahren wir Leser*innen eine Menge, also wirklich: Menge, über Kolonialgeschichte, wir begegnen dem Who is Who der indischen Unabhängigkeitsbewegung – Menschen, über die teilweise nicht mal ein deutschsprachiger Wikipedia-Eintrag existiert – und beginnen die Geschichte von einer anderen Seite zu betrachten als jener, mit der man es hierzulande gewöhnlich zu tun bekommt. Etwa dann, wenn Durga/Sanjeev durch ihr/sein neu erlangtes Wissen zum ersten Mal im Leben Bedauern darüber empfindet, dass Deutschland den Ersten Weltkrieg verloren hat. Denn aus Sicht des indischen Unabhängigkeitsbegehrens ist es so: Es hätte im Fall einer Niederlage Großbritanniens seine Erfüllung wahrscheinlich schon viel früher gefunden als im Jahre 1947.
Dass es ein Roman auf die Longlist des Deutschen Buchpreises schaffen kann, der derart tief in südasiatische Geschichte – präziser: in indisch-europäische Verflechtungsgeschichte – hineinleuchtet, ist überraschend. Ob dieser Text, wäre er ein Debüt gewesen, überhaupt einen großen Verlag gefunden hätte? Vielleicht hat der Erfolg von »Identitti« ihn erst möglich gemacht. Wie auch immer: Es ist ein großes Glück. Denn während Mithu Sanyal in ihrem Erstling eine originelle Idee noch recht geordnet durchdeklinierte, ist ihr Schreiben in »Antichristie« befreit.
Und wie – wer nämlich geglaubt hat, die Wandlung von Familienkomödie über Zeitreiseabenteuer zu historischer Revolutionsromanze sei es schon gewesen, irrt gewaltig. Denn wie gesagt: Immer wird noch eins draufgesetzt. »Antichristie« erweist sich schließlich selbst als Krimi im Stile britischer Klassiker: Durgas Gegenwart im Writers’ Room, die übrigens parallel weitergeht, verbindet sich so mit den Ereignissen in India House, wo ein Mord aufgeklärt werden muss. Mit Unterstützung von niemand Geringerem als Sherlock Holmes. Klingt aberwitzig? Oh, ja!
Mithu Sanyal: Antichristie. Hanser, 544 S., geb., 25 €.
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