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Der Anruf, der den Krieg hervorrief

Das diesjährige Filmfestival Cottbus zeigte statt Politikmüdigkeit eine große Spielfreude und bewegende Geschichten

  • Susanne Gietl
  • Lesedauer: 5 Min.
Wann hat sich die Heimat aufgelöst? Szene aus dem Film »When the Phone Rang«
Wann hat sich die Heimat aufgelöst? Szene aus dem Film »When the Phone Rang«

Gerade in Zeiten wie diesen fragt man sich, wo man die Kraft findet, um sich der Realität zu stellen. Die Antwort ist: im Kino! Die Filme des 34. Cottbuser Filmfestivals für osteuropäischen Film, das am Sonntag zu Ende ging, demonstrierten die Kraft der Nächstenliebe in dunklen Zeiten. Dabei wussten die Filmemacherinnen und Filmemacher den »unausgesprochenen ›Elefanten im Raum‹« laut Programmdirektor Bernd Buder sehr wohl zu benennen. Einer der zwölf Wettbewerbsfilme aus 19 Koproduktionsländern führte sogar in den Weltraum.

In Pavlo Ostrikovs ukrainischem Sci-Fi-Filmdebüt »U Are The Universe« entsorgt ein Astronaut radioaktiven Müll im Weltall. Sein Bordcomputer versteht sich besonders gut darin, schlechte Witze zu reißen. Doch dass die Erde zerstört ist, ist wahr. Gerade als der Raumfahrer glaubt, dass er der einzige Mensch im Universum ist, hört er eine Stimme. Fortan schicken sie sich Nachrichten. Hauptdarsteller Volodymyr Kravchuk, in dem ein gewisser Humor schlummert, weint, friert, wankt und träumt so überzeugend, dass man vergisst, dass er allein ist. »U Are The Universe« ist mehr als ein Low-Budget-Update von Stanley Kubricks »2001: Odyssee im Weltraum«, sondern eine poetisch-kosmische Ansage an die Menschlichkeit. Neben dem Publikumspreis bekam Pavlo Ostrikov den Spezialpreis für die beste Regie.

Den Hauptpreis der Gläsernen Lubina und den Fipresci-Preis gewann Iva Radivojević für »When the Phone Rang«. Ein Mädchen erfährt eines Freitags im Jahr 1992 am Telefon, dass ihr Großvater gestorben ist. »In ihrer Erinnerung war es der Anruf, der den Krieg hervorrief«, hört man die Stimme der Erzählerin sagen. Und dann klingelt immer wieder das Telefon unter der tickenden Küchenuhr. Der Zeitmaschineneffekt in dem serbischen Wettbewerbsbeitrag über das namenlose Jugoslawien, in dem sich Traum und Realität überlagern, überzeugt nicht immer. Die Jury bewunderte »die authentische Erzählung eines auseinanderfallenden Landes und seine einzigartige, poetische Filmsprache«, perfekt ausbalanciert zwischen der Gefühlsebene des Mädchens, dem kollektiven Schmerz und der politischen Ereignisse bei der Wiedergabe von Erinnerungen.

Die Filme des Cottbuser Filmfestivals demonstrierten die Kraft der Nächstenliebe in dunklen Zeiten.

Filip Peruzovićs stilles Drama »Good Children« wurde von der internationalen Festivaljury lobend erwähnt. Im Film räumen Bruder und Schwester im Haus ihrer verstorbenen Mutter Zimmer für Zimmer aus. Zwischen Bettwanzen, Ping-Pong-Platte und Kindheitserinnerungen nähern sie sich langsam einander an. Ebenfalls eine Familiengeschichte erzählt der griechische Regisseur Orfeas Peretzis mit »Riviera«, wo eine 17-Jährige um ihren kürzlich verstorbenen Vater trauert. Eine alte Palme, mit der sie regelmäßig spricht und sie umarmt, verbindet sie. Eva Samioti bekam die Gläserne Lubina für ihre mutige und vielschichtige Darbietung einer Frau, die sich erst langsam von dem löst, was längst verloren ist. Peretzis’ Debüt fängt den Sommer in dem Athener Küstenvorort genauso schön ein wie die Melancholie des Mädchens.

Besonders berührend ist Damian Kocurs »Under the Vulcano«, der eine 15-Jährige beim Teneriffa-Urlaub in den Mittelpunkt rückt. Als Krieg in der Ukraine ausbricht, sind sie und ihre Familie nicht mehr Urlauber, sondern Exilflüchtlinge. Aber so richtig scheint sie keiner zu verstehen, stattdessen sollen sie weiterhin im Pool planschen und Ruinen als Touristenattraktion besuchen. Traurige Realitäten, die kein Happy End versprechen.

Die fast unwirklich wirkenden Felslandschaften und das türkisfarbene Wasser des Yssyk-Köl-Sees in Kirgisien bieten die perfekte Kulisse für das Gangsterdrama »Deal at the Boarder«. Dastan Zhapar Ryskeldis Film über eine Sklavin, die von zwei Schmugglern gerettet wird, ist autobiografisch motiviert. Ryskeldis Bruder verschwand, als er 14 war. Erst später erfuhr er, dass er in die Sklaverei verschleppt wurde. Trotzdem ist »Deal at the Boarder« kein knallharter Film. Vielmehr blickt er in das Licht am Ende des Horizonts. Auch Vuk Ršumović sucht Licht in »Dwelling Among the Gods«. Als Fereshteh Hosseini (spielt sich selbst) in Belgrad erfährt, dass ihr Bruder eventuell im Fluss ertrunken ist, setzt sie alles daran, um ihn zu sehen. Doch eine Bürokratiewelle schlägt ihr entgegen. Am Ende machen ihr Charisma und die Hilfe eines Dolmetschers den Unterschied.

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Mit ehrenhaften Männern in Montenegro und viel zu viel Pathos wartet Nikola Vukčevićs düsterer Fantasyfilm »The Tower of Strength« auf. Wohltuend unaufdringlich ist hingegen Nadejda Kosevas »The Trap« über eine Wildschweinjagd an einem idyllischen Flussdelta. In den Augen von Alexander Trifonov liest man die Liebe seiner Figur zu den Tieren, zwei Krähen werden zu ungewöhnlichen Nebendarstellern, die Mensch und Tier näher zusammenbringen. Distanzierter geht es bei Adam Martinecs tschechischer Tragikomödie »Our Lovely Pig Slaughter« zu. Während ein Schwein für das jährliche Familienessen immer mehr in seine Einzelteile zerlegt wird, treten schichtweise die Probleme der einzelnen Familienangehörigen an den Tag.

Ein Blick in die 90er wagt Ignas Miškinis’ »Southern Chronicles«. Ein Rugbyspieler aus dem Plattenbau verliebt sich in eine gut situierte Gitarrenspielerin. Um sie zu beeindrucken, liest er Bücher und wird zum Rugby-Poeten. Der Soundtrack spult die Zeit zurück, die Kamera bleibt nah an ihren Figuren, die Klassenunterschiede sind spürbar. Bemerkenswert ist auch Assel Aushakimovas Drama »Bikechess«: Während die lesbische Schwester einer kasachischen Journalistin verhaftet wird, weil sie ein Blanco-Plakat in die Luft gehalten hat, dreht die Journalistin als Berichte getarnte Werbefilme für den kasachischen Staat. Die sind so absurd, dass man kurzzeitig schmunzelt. Eine weitere Möglichkeit, um schwierigen Zeiten zu begegnen. Wenigstens vorübergehend.

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