- Wirtschaft und Umwelt
- Mindestlohngesetz
Mindestlohn: Bundesregierung festigt Status quo fürs Kapital
Bundesregierung bleibt bei Umsetzung der EU-Richtlinie untätig
Als Meilenstein der europäischen Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik war es gedacht, als die Mitgliedstaaten der EU und die Kommission sich im Jahr 2022 auf eine gemeinsame Mindestlohnrichtlinie einigten. Danach verpflichteten sich die Regierungen nicht nur, für angemessene Mindestlöhne zu sorgen. Auch die Tarifbindung sollte gestärkt werden. Doch die faktische Wirkung der Richtlinie ist bis heute mehr als unklar.
»In vielen Punkten ist die Mindestlohnrichtlinie vage und dann kommt es auf ihre Auslegung und Umsetzung an«, bemängelt der Arbeitsrechtler Ernesto Klengel im Gespräch mit »nd«. Er ist Direktor des gewerkschaftsnahen Hugo-Sinzheimer-Instituts (HSI) und beschäftigt sich seit Jahren mit Fragen des Arbeitsrechts in der EU. »Klar ist nur, dass es Referenzwerte geben muss, welche das dann sind, ist eine politische Frage«, sagt er. Ein solcher Wert könnte bei 60 Prozent des Medianlohns liegen. Das wären nach aktuellem Stand etwa 14 Euro, wie auch der Deutsche Gewerkschaftsbund fordert. Derzeit liegt der gesetzliche Mindestlohn bei 12,41 Euro.
Doch ein solcher Referenzwert fehlt im deutschen Mindestlohngesetz. Dennoch gab die Bundesregierung Mitte Oktober offiziell bekannt, dass die Anforderungen der Richtlinie durch bestehendes Recht erfüllt seien. Der deutsche Gesetzgeber habe sich für den auf internationaler Ebene anerkannten Wert von 60 Prozent des Bruttomedianlohns entschieden, heißt es auf nd-Anfrage aus dem Arbeitsministerium. Der »Orientierungswert« werde auch bei künftigen Entscheidungen der Mindestlohnkommission zu berücksichtigen sein. Über dieses Verständnis des bestehenden Mindestlohnrechts habe Bundesminister Hubertus Heil (SPD) »Anfang September auch die Mindestlohnkommission informiert.«
Dass das Arbeitsministerium den Referenzwert lediglich als »Orientierungswert« heranzieht, ist aus Sicht Klengels verfehlt. »Denn die Kriterien, für die sich der Mitgliedstaat entscheidet, müssen klar definiert sein«, meint der Rechtsexperte.
Auch, weil es keine klaren Vorgaben gibt, konnten die Unternehmen bei der letzten minimalen Erhöhung die Gewerkschaften in der Mindestlohnkommission mit der Stimme des Vorstands überstimmen.
Dass die Rechtsauslegung des Arbeitsministeriums tatsächlich Bestand haben wird, ist mehr als fraglich. Allein gegen die Absichtserklärung, den Mindestlohn auf 14 Euro anheben zu wollen, liefen die Unternehmensverbände Sturm. Sie warnen vor Stellenabbau und werfen Heil vor, die Unabhängigkeit der Kommission zu untergraben. Der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Steffen Kampeter, stellte gar die Mitarbeit der Unternehmer in dem Gremium infrage.
»Die Untätigkeit der Bundesregierung sendet das falsche Signal.«
Zeynep Bicici IG BAU
Vor dem Hintergrund kritisiert auch Zeynep Bicici von der Gewerkschaft IG BAU die Entscheidung der Bundesregierung scharf. Sie ist Mitglied im Bundesvorstand der Gewerkschaft und Präsidentin des Reinigungs- und Sicherheitskräftesektors beim europäischen Dachverband der Dienstleistungsgewerkschaften UNI Europa. »Die gegenwärtige Untätigkeit der Bundesregierung sendet das falsche Signal, insbesondere in wirtschaftlich unsicheren Zeiten, in denen sich Beschäftigte mit wachsenden prekären Arbeitsverhältnissen konfrontiert sehen«, wirft sie der Regierung auf nd-Anfrage vor und fordert auch eine Stärkung der Tarifbindung.
Ähnlich sieht das Christian Erzinger, 29-jähriger Glas- und Gebäudereiniger aus der Region Leipzig. »Der Mindestlohn war am Anfang eine gute Sache, unterste Gruppen sind nach oben gekommen«, erklärt er. Doch er sieht es kritisch, dass dieser zuletzt sogar über die tariflich ausgehandelten Entgelte stieg. Die Gewerkschaft IG BAU fordert in den aktuellen Tarifverhandlungen einen Branchenmindestlohn von 16,50 Euro, um den Abstand zum gesetzlichen Mindestlohn zu wahren. Erzinger unterstreicht die Bedeutung von Tarifverträgen und starken Tarifabschlüssen.
Zur Erhöhung der Tarifbindung in Europa sieht die EU-Mindestlohnrichtlinie eine Abdeckung von 80 Prozent vor. Ansonsten seien die Mitgliedsstaaten verpflichtet, Nationale Aktionspläne zu entwickeln. Dass der Wert in Deutschland bei einer aktuellen Tarifbindung von unter 50 Prozent bald erreicht wird, ist jedoch nahezu ausgeschlossen, erklärt Ernesto Klengel vom HSI. Auch, weil sich die Quote seit Jahren im Sinkflug befindet.
Die Bundesregierung sieht indes auch hier keinen dringenden Handlungsbedarf. »Die EU-Kommission erwartet den Aktionsplan erst bis Ende 2025«, wie ein Sprecher des Arbeitsministeriums erklärt. Dazu habe Minister Heil kürzlich den Entwurf für ein Tariftreuegesetz vorgelegt. Das aber wurde am Mittwoch erneut auf die lange Bank geschoben. Dass es noch vor den vorgezogenen Wahlen durchs Kabinett geht und sowohl Bundestag als auch Bundesrat passiert, gilt als ausgeschlossen.
Am Ende dürfte die Entscheidung der Bundesregierung, mit Blick auf die EU-Mindestlohnrichtlinie untätig zu bleiben, also auf ein Weiter so hinauslaufen. Und das bedeutet, dass sich im Zweifel die Arbeitgeberseite durchsetzt.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.