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Alle Macht den Pilzen

Es geht schnell und tut gar nicht weh: Luise Meier lässt in ihrer Sozialutopie »Hyphen« den bundesdeutschen Kapitalismus zusammenbrechen

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 5 Min.
Mit Pilzen geht alles besser, sogar die Revolution.
Mit Pilzen geht alles besser, sogar die Revolution.

Wenn erst einmal der Strom ausfällt, bricht das Chaos aus, Bürgerkrieg und nackte Gewalt sind die unvermeidliche Folge. So zumindest wird das für gewöhnlich in postapokalyptischen Erzählungen durchdekliniert. Dieses Subgenre der Science-Fiction-Literatur hat gerade Konjunktur. So etwa in Marc Elsbergs Bestseller »Blackout«, der 2023 von RTL als Serie verfilmt wurde.

Für viele Rechte ist die Idee eines großen Stromausfalls basales Element einer Fantasie des politischen Umsturzes, so auch für das Reichsbürgernetzwerk, das in Stuttgart vor Gericht steht. Insofern mutet es zwar befremdlich an, dass in Elsbergs Roman frustrierte Linke für den Blackout verantwortlich sein sollen. In der »Jackpot«-Trilogie von SF-Altmeister William Gibson gibt es auch einen großen Stromausfall als Initialzündung einer apokalyptischen Krise, die dort aber von Rechten ausgelöst wird.

Ganz anders wirkt sich der große Stromausfall in Luise Meiers erstem Roman »Hyphen« aus. Statt Chaos und Gewalt finden sich in ihrer utopischen Erzählung die Menschen plötzlich in einer Situation wieder, in der sie gezwungenermaßen auf kommunaler Ebene solidarische Care-Strukturen aufbauen müssen und dabei nebenher auch noch eben mal den Kapitalismus überwinden.

Mit diesem Plot ist Meier derzeit nicht die einzige Autorin, die das vermeintliche Weltuntergangsszenario einer sich von der Technik verabschiedenden Gesellschaft als Utopie ausmalt. Während im starbesetzten Netflix-Film »Leave the world behind« (2023) oder in Don DeLillos Roman »Die Stille« (2020) das Kollabieren der technologischen Infrastruktur in den zivilisatorischen Untergang und ein munteres Jeder-gegen-jeden führt, erzählt auch Jonathan Lethem in »Der Stillstand« (2024) von einer ländlichen Kommune, die selbstorganisiert in ein neues Zeitalter kommunitären Lebens eintritt und eine solidarische Praxis lebt.

In Luise Meiers Roman, der in einer nahen Zukunft angesiedelt ist, und vor allem in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern spielt, werden selbst die Nazis »umgedreht« – mittels der titelgebenden Hyphen, den fadenförmigen Zellen von Pilzen, die eine wichtige Rolle spielen. Denn Pilze sind hier, in der zweiten Hälfte der 2020er Jahre, nach den großen Stromausfällen nicht nur ein wichtiges Lebensmittel einer auf Subsistenzwirtschaft beruhenden dezentralen und kommunalen Selbstversorgung. Sie werden auch als Medizin und als Droge genutzt und waren auch mitverantwortlich für die Stromausfälle.

Diese beenden das bisherige Gesellschaftssystem sukzessive ohne großen Knall. Schon vorher hatte die »Sporenbefreiungsfront« mit Pilzen experimentiert. Unter anderem wurde auf einem Nazi-Musikfestival das Bier mit psychogenen Pilzen versetzt, was auf die Konsumenten eine enorme Wirkung hatte: »Das war so, als wären die einfach alle aus ihren Körpern rausgeflossen, wie wenn man Glasflaschen zerbricht oder Kokosnüsse aufschlägt. (…) Da ging’s dann auch nicht wie bei meinem Vater und seinen Kumpels um deren Vergangenheit und Traumata und so, sondern die haben das Universum verstanden, die Zusammenhänge«, erzählt ein begeisterter Ex-Antifa, wie er und seine Genoss*innen aus einem Nazi-Festival ein bewusstseinserweiterndes Woodstock 2.0 machten.

Im Zentrum der Erzählung steht Maja, die viel über Marx’ Begriff des Stoffwechsels, Bogdanows Proletkult, Ernst Bloch und Walter Benjamin nachdenkt, über das Land reist und an einer Enzyklopädie schreibt, die quasi das Internet ersetzt und unter anderem das Pilzwissen für alle zugänglich machen soll. Sie führt lange Gespräche mit Menschen im dörflichen Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, wobei deren Biografien aufgefächert werden. Es geht um das Leben in der DDR, um die Wende, die Jahre im wiedervereinigten Deutschland und schließlich um die sich verstetigende Krise, die im havarierenden Stromnetz und einer postindustriellen, agrarischen Care-Gesellschaft gipfelt.

Da gibt es etwa Tomasz, der spielsüchtig vor dem Rechner hing, in der Krise eine Beziehung mit seiner Nachbarin beginnt und bald über sich hinauswächst. Liv hatte bisher Gäste an der Ostsee mit Yoga und Massage behandelt, jetzt ist sie Teil der kommunalen Gemeinschaft und alle haben etwas von ihren Fähigkeiten. Nur wo sind all die Kapitalisten abgeblieben? Als eine Kommune Kontakt zu einer sich abschottenden ehemals reichen Familie bekommt, ist es in erster Linie die Fähigkeit, deeskalierend zu kommunizieren, die eine drohende Konfrontation verhindert.

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Dabei greift die Erzählung auch mal bis ins kurdisch-sozialistische Rojava aus, wo Zeyneb lebte, die berichtet, dass dort neben der Pilzrevolution »die alles durchdringende Selbstverwaltung einfach anpassungsfähiger und resilienter sei, schneller auf Krisen und große Veränderungen reagieren könne. Aber auch, weil die Sorge umeinander weniger brauche als die Aufrechterhaltung eines Staatsapparats, einer abstrakten Ideologie oder eines diktatorischen Regimes.«

Oder ist das dann doch zu einfach? Wäre eine Utopie, die die Widersprüche und Konfliktlinien der Gegenwart miterzählt und aus diesem Spannungsverhältnis heraus eine neue Welt entwirft, glaubwürdiger?

Luise Meier baut in ihrem Roman noch einen Nebenstrang ein: Es geht um die deutsche Energieversorgung mittels eines riesigen Wasserstoff-Projekts in Namibia als letztem Rettungsanker des havarierenden bundesrepublikanischen Kapitalismus, der dort Massaker durch die Bundeswehr anrichtet, als die Bevölkerung die Solarpanels plündert. Denn so sehr sich weite Teile von »Hyphen« wie ein »Wünsch dir was«-Rezept lesen, steckt doch auch eine ganze Reihe schmerzvoller Ereignisse in dieser großen Transformation in eine nachkapitalistische Ära, die bei Meier erstaunlicherweise sehr schnell, innerhalb von ein paar Jahren, geschieht.

Die Pilzmetapher steht dabei auch für die neuen myzelartigen sozialen Strukturen, die sich herausbilden – jenseits von Wettbewerb und hegemonialer Gewalt. Die Menschen kooperieren im Moment der Havarie, als eine Neuausrichtung vonnöten ist, statt sich gegenseitig zu bekämpfen. Das mag angesichts einer vorherrschenden und alle sozialen Beziehungen durchdringenden kapitalistischen Logik beschönigend wirken und verstörte auch schon die eine oder andere Literaturkritikerin. Aber »Hyphen« muss als soziale Utopie gelesen werden, als Ideenroman, der Potenzialitäten auslotet und letztlich in einer Tradition mit Büchern wie William Morris’ »Kunde von Nirgendwo« (1890) oder zuletzt auch Yanis Varoufakis’ »Ein anderes Jetzt« (2021) steht.

Luise Meier erfindet eine andere Zukunft und leuchtet darin literarisch forschend die Möglichkeiten einer solidarischen Care-Kultur aus. Ein großes Abenteuer auf dem Land, mitunter sehr pointiert und spannend erzählt.

Luise Meier: »Hyphen«. Matthes und Seitz, 303 S., geb., 25 €.

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