- Politik
- G20-Gipfel in Rio
Anwalt des globalen Südens
Unter Präsident Lula da Silva mischt Brasilien wieder kraftvoll auf der internationalen Bühne mit
Mit dem Sieg von Luiz Inácio Lula da Silva über den Rechtsextremen Jair Bolsonaro bei der Präsidentschaftswahl vor zwei Jahren hat Brasilien nicht nur innenpolitisch ein neues Kapitel aufgeschlagen. Unter dem Mitgründer der Arbeiterpartei (PT) knüpft die Diplomatie des größten Staates Südamerikas wieder bei der souveränen und selbstbewussten Außenpolitik an, die vor zwei Jahrzehnten während der ersten beiden Amtszeiten von Lula und unter seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff prägend war.
Der bevorstehende 19. G20-Gipfel der mächtigsten Akteure in der politischen Weltarena in Rio de Janeiro ist dabei ein wichtiger Schritt. Er fällt in eine Zeit, in der die Missachtung des internationalen Rechts mit den Konflikten in der Ukraine und Israels Krieg im Nahen Osten eine gefährliche neue Qualität angenommen hat. Die Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus, wo der Aufstieg Chinas als Bedrohung der hegemonialen Rolle der USA betrachtet wird, verstärkt die Ungewissheit über kommende Entwicklungen.
Am Rande des Treffens werden eine Reihe bilateraler Gespräche zwischen den Spitzenpolitikern stattfinden. So wird am Dienstag Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit Chinas Staatschef Xi Jinping zusammentreffen, der Brasilien gleichzeitig einen Staatsbesuch abstattet. Nach Rio reisen wird auch der scheidende US-Präsident Joe Biden.
Zunächst begünstigt durch hohe Preise für seine Exportgüter auf dem Weltmarkt, war die Wirtschaft des Schwellenlandes Brasilien während der PT-Ära gewachsen und auch sein internationales Gewicht. Große Sozialprogramme wurden finanziert; der steigende Massenkonsum kurbelte den Aufschwung mit an.
Dieser Aufstieg des Landes fand seit 2009 seinen Ausdruck auch als Teil des Brics-Bündnisses aufstrebender Wirtschaftsnationen, als Alternative zum Block der führenden westlichen Industriestaaten. Unter dem 2016 durch einen Parlamentsputsch installierten de-facto-Präsidenten Michel Temer und Staatschef Bolsonaro verlor Brasilien international beträchtlich an Prestige und Einfluss. Von Trump-Nacheiferer Bolsonaro an die Spitze des Itamaraty, des brasilianischen Außenministeriums, beförderte Ideologen wurden vom diplomatischen Dienst ausgesessen.
Die nun wieder aktivere Rolle auf der Weltbühne und bei der regionalen Integration bedeutet keine Aufgabe des traditionellen Kurses einer Neutralität gegenüber den Großmächten und einer nüchtern an den eigenen Interessen orientierten Politik. Entsprechend lässt sich Brasilien, das den vom Kreml gestarteten Angriff auf die Ukraine als Stellvertreterkrieg der USA mit Russland sieht, auch nicht in den Block des Westens als Partei hineinziehen. Zudem importiert Brasilien aus Russland Erdölprodukte und für sein Agrarbusiness wichtigen Kalidünger aus Belarus.
Statt Waffen und Munition für Kiew zu liefern, startete Lula umgehend eine Friedensinitiative für eine diplomatische Lösung des Konflikts und positionierte sein Land als Vorsprecher des globalen Südens. Für dessen Entwicklung sind die großen Krisen und die Embargopolitik ein Hemmnis mit gravierenden Folgen für die Bevölkerungen. Auch Brasilien selbst braucht für seine Handlungsbeziehungen – auch für die von der Regierung Lula anvisierten Ziele bei der sozialen und ökologischen Entwicklung – eine Entspannung der Weltlage. Auch nach der Abwahl von Bolsonaro ist die brasilianische Gesellschaft stark polarisiert, besitzen konservative und rechtsextreme Kräfte breiten Rückhalt und beherrschen den Kongress.
Der Gipfel in Rio de Janeiro wartet mit einer von Brasilien, das in diesem Jahr den Vorsitz der G20 innehat, initiierten Neuerung auf. Als neue Säule vorgeschaltet war ihm das Meeting von Vertretern von Bewegungen und zivilgesellschaftlicher Organisationen aus aller Welt »G20 Social«, das vom vergangenen Donnerstag bis Samstag in der Stadt am Zuckerhut abgehalten wurde – eine Art Weltsozialgipfel von oben. Zum Themenspektrum gehörten die Bekämpfung von Armut und Ungleichheit, der Schutz der Biodiversität, die Lage von Migranten, der Kampf gegen Rassismus und für die Gleichstellung von Frauen und Männern im Arbeitsleben.
Vor fünf Jahren war Lula nach 580 Tagen Haft infolge eines politisch motivierten Urteils in einem manipulierten Prozess mithilfe des Obersten Gerichtshofes wieder in Freiheit gelangt und startete ein unvergleichliches politisches Comeback. Keine andere Person des öffentlichen Lebens in Brasilien und im dortigen linken Spektrum besitzt eine vergleichbare Popularität wie der aus einfachsten Verhältnissen stammende frühere Gewerkschaftsführer. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung verbindet mit Lula weiter den millionenfachen Aufstieg aus der Armut und die Verbreiterung von Bildungschancen in einer von rassistischer Benachteiligung geprägten Gesellschaft, mit einem weiter extrem ungleich verteilten Reichtum. Für andere verkörpert der linke Politiker den Angriff auf ihre realen oder symbolischen Privilegien.
Während sich die Mitte von Lulas laufender Amtszeit nähert, zeigt der Armutsindex für Lateinamerika für 2023 vor allem wegen Brasilien und dessen Sozialpolitik eine Verringerung an. Gegenüber dem Vorjahr reduzierte sich in der Region der Anteil der Armen an der Bevölkerung nach den Zahlen der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Lateinamerika und die Karibik (ECLAC) um 1,5 auf 27,3 Prozent. Das ist im Wesentlichen auf direkte Transferleistungen für arme Familien in Brasilien, wo ein Drittel aller Lateinamerikaner lebt, zurückzuführen, stellte ECLAC fest. Die meisten Länder der Region würden weiterhin viel zu wenig in die Beseitigung der strukturellen Armut investieren.
Auch auf dem anstehenden G20-Gipfel will Brasilien Umverteilung zum Thema machen, durch die Vereinbarung einer Globalen Mindeststeuer für Milliardäre. Demnach sollen künftig die individuell bisher kaum herangezogenen Superreichen jährlich mit mindestens zwei Prozent ihres Vermögens besteuert werden, um den weltweiten Kampf gegen die Armut zu finanzieren. Bis zu 250 Milliarden US-Dollar könnten so eingenommen werden. Im August hatten die G20-Finanzminister in einer Absichtserklärung erklärt, sich um eine effektivere Besteuerung der Reichsten der Reichen bemühen zu wollen. Angesichts der Verquickung von Oligarchen und Politik dürfte die praktische Umsetzung des Vorschlages noch auf viele Hürden treffen.
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